Ein „Jugendgedicht“ Christian Wagners

Christian Wagner arbeitete  im Winter 1868/69 beim Bau der Eisenbahnstrecke Leonberg – Renningen. Wie er in seinen Memoiren schreibt, ließen seine Kollegen mitunter nicht ab von ihm, bis er über dieses oder das ein Gedicht machte. „Einige davon sind heutigen Tages noch im Gedächtnis der damals Dabeigewesenen.“  Eins dieser Gelegenheitsgedichte wurde erstmals 1984 an entlegener Stelle veröffentlicht und jetzt wiederentdeckt. Es lautet:

„In der Morgenhelle
Auf der Arbeitsstelle
Auf die Schipp’ sich lehnend
Und nach dem Abend sehnend:
Ja, Freund, das ist eben
Eisenbahnerleben!“

Überlieferung: Christian Wagner, Ein Blumenstrauß. Gedichte (Reprint der Ausgabe 1906) Magstadt 4. Aufl. 1984. Ein Exemplar des Bandes befindet sich in der Bibliothek der Christian-Wagner-Gesellschaft

 

 

„Hiawatha“ – ein unbekanntes Gedicht Christian Wagners

In Christian Wagners Nachlass, der im CWA Warmbronn aufbewahrt wird, befinden sich viele handschriftliche Gedichterarbeitungen. Manche davon wurden nie gedruckt. Das trifft auch auf ein Gedicht zu, das offenbar für den III. Teil der „Sonntagsgänge“ oder für einen IV. Teil vorgesehen war. „Sonntagsgänge III. Teil“ erschien im Jahr 1890, aber ohne dieses Gedicht; zu einem IV. Teil kam es nicht, und so blieb das Gedicht unveröffentlicht. Es trägt den Titel „Hiawatha“ und enthält eine für die „Sonntagsgänge“ charakteristische Prosa-Umrahmung. In dem Gedicht gibt Wagner eine verblüffende Deutung der Wegmarkierung „Frauenkreuz“ im Warmbronner Wald, und er scheint dabei an nordamerikanische Indianersagen anzuknüpfen.

Hiawatha ist in diesen Sagen ein Messias, ein Krieger, der seinem Volk Jagd, Fischfang und die Kunst des Friedens lehrte. Er ist die Hauptfigur in einem Epos des amerikanischen Schriftstellers Henry Wadsworth Longfellow (1807 – 1882), das 1855 erstmals erschien und großen Erfolg hatte.

In Christian Wagners Gedicht ist Hiawatha allerdings eine Indianderfrau, die von einem „Bleichgesicht“ geraubt wurde und ihren Tod am Frauenkreuz findet. Aber ihr Name ist so ausgefallen, dass er wohl nur aus Longfellows Epos stammen kann. Hat Wagner Longfellows „The Song of Hiawatha“ in einer deutschen Übersetzung gelesen? Es gab zu seinen Lebzeiten drei Übersetzungen; die zweite stammt von Ferdinand Freiligrath (Stuttgart 1857), die dritte von dem deutsch-amerikanischen Autor Karl Knortz (Jena 1872). Die CWG hat ein Exemplar der Übersetzung von Knortz für ihre Bibliothek erworben. Mit Knortz führte Wagner einen Briefwechsel; Knortz hat Wagner wohl auf einen anderen amerikanischen Schriftsteller, Henry David Thoreau, aufmerksam gemacht. Auch in Zeitschriften, wie 1882 in der vielgelesenen „Gartenlaube“, wurde auf Longfellows „Hiawatha“ hingewiesen.

 

 

Schätze aus dem Nachlass von Luise Wagner, der Tochter des Dichters

Von den Schweizer Erben Christian Wagners hat die CWG 2018 wertvolle Bücher und Schriften aus dem Besitz Luise Wagners (1887 – 1950), der jüngsten Tochter des Dichters, erhalten. Sie beleuchten vor allem Luise Wagners Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Hermann Hesse (1877 – 1962). Luise war vom 10. Juni bis 2. September 1908 Haushälterin bei der Familie Hesse in Gaienhofen. In dieser Zeit stellte sie auch den Kontakt zwischen den beiden Dichtern her, die sich im April 1909 in Stuttgart erstmals begegneten.

Es scheint, dass die Tochter eher auf Hesse aufmerksam wurde als ihr Dichter-Vater. Denn aus ihrer Bibliothek erhielt die CWG folgende Bücher von Hesse: die 5. Auflage von „Unterm Rad“ aus dem Jahre 1906, den Roman „Gertrud“ in der Erstausgabe von 1910 und seine Gedichtsammlung „Unterwegs“.

Auch nach Christian Wagners Tod hielt Luise Wagner den Kontakt zu Hermann Hesse aufrecht. Ihn dokumentieren eine Postkarte Hesses vom 18. Januar 1929 und ein Brief Hesses vom 4. Januar 1942. Beide Schriftstücke befinden sich nunmehr ebenfalls im CWA.

Besonders wertvoll ist auch ein Exemplar von Christian Wagners Band „Sonntagsgänge I. Teil“. Der Dichter schenkte es seiner Tochter Luise anlässlich ihrer Hochzeit mit dem Schweizer Sekundarlehrer Albert Pfenninger. Die Hochzeit fand 1912 in Hinwil bei Zürich statt. Vater Christian Wagner war natürlich zu der Feier angereist. Das Exemplar enthält ein Widmungsgedicht Wagners, das bis heute unveröffentlicht worden ist. Es lautet:

„Gekostet edle Freuden hab ich viel
In deinem Schutze, sonniges Hinwil.
Im Schweizerland ein stiller Schwabengast,
Dem Wald und Wiese wie die Heimat fast.
Wer weiß, ob nicht als späteres Asyl
Aufsuche ich mein friedliches Hinwil?“

 

 

Christian Wagner und Henry David Thoreau

Die CWG hat eine Broschüre erworben, die das Verhältnis von Christian Wagner zu dem amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau (1817 – 1862) in einem neuen Licht zeigt. Thoreau ist vor allem durch seinen Bericht „Walden oder Leben in den Wäldern“ (1854; erste deutsche Übersetzung 1905) bekannt geworden, der eine ähnliche Lebenseinstellung wie die Schriften Christian Wagners zeigt. Wie die Broschüre nunmehr nahelegt, hat Wagner Thoreau sogar gekannt, zumindest  seinen Namen und seine Ideen. Sie stammt von dem deutsch-amerikanischen Schriftsteller Karl Knortz (geboren 1841 in der Nähe von Wetzlar, ausgewandert 1863, gestorben 1918 in North Tarrytown/USA).

Die Broschüre erschien 1899 in deutscher Sprache in Hamburg unter dem Titel „Ein amerikanischer Diogenes (Henry D. Thoreau)“. Auf der letzten Seite 32 zieht Knortz eine Parallele zwischen beiden Autoren: „Doch auch Deutschland scheint neuerdings in Christian Wagner (…) einen Geistesverwandten Thoreau’s zu besitzen.“ Somit ist Knortz wohl der erste, der Christian Wagner und Thoreau in einem Atemzug nennt.

Christian Wagner könnte diese Broschüre gekannt haben, denn er stand mit deren Verfasser Knortz in Briefkontakt. Leider sind nur drei Briefe Wagners an Knortz erhalten geblieben. Sie stammen aus den Jahren 1887, 1894 und 1897 und werden im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt. Aus dem Briefen geht hervor, dass sich Knortz und Wagner gegenseitig ihre Bücher schickten.  Außerdem sandte Knortz Wagner Artikel zu, die in deutschsprachigen amerikanischen Zeitschriften über den Warmbronner Dichter erschienen waren. In der Logik dieses Austausches liegt es, dass Knortz Wagner 1899 auch seine Thoreau-Broschüre geschickt hat. Sie ist allerdings in der Bibliothek Wagners heute nicht erhalten. Umso wichtiger ist es deshalb, dass die CWG diese Broschüre erwerben konnte.