Laudatio zur Verleihung des 15. Christian-Wagner-Preises an Esther Kinsky, 21.11.2020

Yevgeniy Breyger

Von sich Absehen

 

Nimm dich raus, erwähne dich nicht selbst, sieh von dir ab – lass die eigene Person draußen.
So die Ratschläge von Esther Kinsky an diejenigen, die glauben, vor der großen Aufgabe zu stehen, für ihr Innerstes eine Sprache, eine literarische Artikulation zu finden. Das Eigene herauslassen, um zur eigenen Sprache zu finden, also. Welche Vorstellungen von Innen und Außen ruft Kinsky damit herbei? Wie spricht die eigene Sprache, wenn sie scheinbar vom Privaten befreit werden muss, um zu sich zu finden?

Es lohnt, über die feine Differenz von Privatem & Persönlichem nachzudenken. Was Kinsky beschwört und in jeglichen Texten, unabhängig von Gattungsgrenzen, bis zur Perfektion erarbeitet, ist die Verdichtung des Sagbaren – des von ihr Sagbaren – bis hin zu dessen tatsächlicher Substanz. Im Zentrum dieser Poetik steht die klassische Annahme der Moderne, dass Sprache ein biegbares, formbares Material darstellt und nicht zum bloßen Medium degradiert werden sollte. Die Art des Sprechens trägt entscheidend zur Aussage bei. So weit, so klar. Woran Kinskys künstlerisches Schaffen erst beginnt und was ihre Stimme unverwechselbar macht, ist die Rückführung des Materials, das Suchen & Finden der Sprechweise, die – bei allem Misstrauen der Allgemeingültigkeit gegenüber – einen gültigen Kern an die Oberfläche befördert. In diesem Kern findet Kinsky zu sich. Im Rückverfolgen des Abtragens von Gesteinsschichten durch fließendes Wasser wird Erlebtes erinnert, wiederbelebt & begehbar gemacht. Wo eine Rostader in Kinskys Gedichten den Weg aus der Dunkelheit ans Licht weist, erobert das Wissen um die innersten verborgenen Areale von Neuem die Gegenwart der Lesenden. Die ursprünglich aufgerufenen Bilder vermögen dabei auf seltsame Weise klar zu bleiben und ihre Konturen nicht zu Gunsten des Privaten zu verwischen. Und ist nicht gerade das eben jenes Persönliche, das uns angeht? Das Erkennen der eigenen Betroffenheit in zahlreichen Spiegelungen des Allgemeinen, ohne weder im einen noch im anderen zu lang zu verweilen?

 

Slate Island 1

Störstufen in der oberfläche : halden, trümmerfelder, boden
bedeckt mit schieferscherben : unter den schritten unabläs-
siges klacken und knirschen, schlag-, schleif- und reibelaute,
metallisch hell die splittersprachige frage nach der größeren
versehrung : die splitter selbst oder der boden, den sie decken :
jeder splitter ein neues fundstück : bläulich, bräunlich, rost-
geädert, zeichentragend : eine verschlüsselte schrift, die sich
einst um vergessene laute geschlossen haben mag.

 

In ihrem neusten Buch „Schiefern“, das Gedichte und kurze Prosatexte versammelt, scheinen klassische Subjekte, das lyrische Personal, durch Orte und Phänomene ersetzt worden zu sein. Kein Ich handelt, kein Ich wertet in diesen Gedichten. Stattdessen verfolgen wir objektiv anmutende Perspektiven auf die Slate Islands, ein Archipel vor der Westküste Schottlands, fokussieren auf den Schieferabbau, und erkunden die Flora & Fauna des Archipels. Wo aber, wie im Gedicht „Slate Island 1“, vom Knirschen, von Schlag-, Schleif- und Reibelauten die Rede ist, wird eines klar – Kinsky zeichnet keine statische Bestandsaufnahme eines Biotops, all diese Laute existieren im Zusammenhang mit der menschlichen Einwirkung. Schließlich gehört zu einem Steinbruch eben nicht bloß Sediment, sondern auch der Mensch, der es abträgt. In der Verwicklung und Auseinandersetzung des Abtragens schafft es Kinsky zur gleichen Zeit, den Lebensalltag der Arbeiter aus einer neuen & frischen Perspektive darzustellen. Womöglich sogar aus der Perspektive des Gesteins selbst. Womit wir es hier also zu tun haben, ist eine umfassende geologische, aber auch historische, ganzheitliche Dokumentation des Schiefers als wandelbares Schichtwerk der Geschichte. Selten haben Gedichte es geschafft, die Poetik des Anthropozäns so klug und umsichtig vorzuführen. Und wo die meiste Dichtung sich zufriedengeben würde, steht Kinsky erst an einem entscheidenden Wendepunkt. Je tiefer sie sich in die Materie hineinbegibt, desto deutlicher wird ihr Verständnis davon, was eine Dokumentation zu leisten vermag.

Kehren wir zur Ausgangsthese zurück – das Selbst soll aus dem Schreiben verschwinden. Schnell wird deutlich, dass Kinskys Schreiben nicht den Charakter mechanischen Handwerks aufweist. Der objektive Dokumentations-Charakter trügt. Der tatsächliche Charakter ihrer Texte ist viel mehr geprägt von einem natürlichen, organischen Nachdenkprozess, der permanenten Reflexion des Gesagten bezüglich der Möglichkeiten des mündlichen & schriftlichen Erinnerns. Wie das Abtragen von Gesteinsschichten sowohl ein natürlicher als auch ein menschgemachter Vorgang sein kann, scheint bei aller übermenschlicher Perspektive aus den Beobachtungen ein Ich heraus, das sich subtil in den Landschaften zu verorten sucht. Nicht die Lautstärke, nicht Effekte & Affekte stehen hier im Vordergrund, es ist die leise, feine Suchbewegung, die diese Texte auszeichnet, so leise, dass sie zu jeder Zeit in Kauf nimmt, überhört zu werden, um Raum für Überlegungen und ebenso Empfindungen der Leser*innen begehbar zu machen.

 

Erinnerung 1

Erinnerung als raum der abwesenheiten, bewegt von der
durchsichtigen hand unberechenbarer synapsen und unwäg-
barer verschiebungen von ablagerungen in den langsam ent-
standenen und vertieften furchen und falten des hirns : es
wimmelt von abwesenheiten in diesem raum, von nicht mehr
vorhandenem, von abhandenem, das dennoch seinen namen
will, den ruf, die benennung, die es hält, im gedenken im ge-
dächtnis behält : mit jeder anrufung, aufrufung durch nen-
nung verändern sich gesicht und gestalt der abwesenheit :
der name nimmt auf, was sich um seine nennung tut, und
das von außen angedrungene gebräch legt sich als schicht um
ihn : fetzen, splitter, bruchstücke werden sich fortan in die
erinnerungsbeschwörung mischen, bestandteil der gedenk-
nennung der jeweiligen abwesenheit sein : jedes erinnern ist
ein akt der aufsuchung, und mit jeder aufsuchung durch nen-
nung entfernt sich eine abwesenheit weiter von dem punkt,
an dem sie war, als sie zum ersten mal, alles anwesenhafte
hinter sich lassend, in ihrem mangelwesen hervortrat und
den leeren raum zu bewohnen begann, ohne ihn je zu füllen :
so ist die gegenwart der stete motor der vergangenheit, nichts
bleibt stehn in der erinnerung, und das erinnerte abwesende
nimmt seine undeutliche gestalt in schichten an, die immer
wieder anders durchlässig oder versiegelt sind : immer wie-
der neue belichtungen überlagern einander, immer wieder
neue tonlagen, in denen der aus wachsender ferne gerufene
name erklingt.

 

Wer in der Literatur das Zeitgemäße sucht, fragt vor allem nach einem Angebot, sich selbst mit ihrer Hilfe in einer komplexen vielschichtigen Gegenwart zu verorten. Das Angebot kann hierbei vielgestaltig ausfallen. Es ist ebenso möglich, die eigene Rolle in der Spiegelung einer freien Form als auch innerhalb eines formstrengen Gedichts zu finden; in einem klassisch erzählten Roman, wie in einem nichtlinearen unausgeformten Notat. Der literarische Essay über die Literatur des 18. Jahrhunderts wird bei genauem Hinsehen kaum weniger Zeitgenossenschaft beinhalten als eine Auseinandersetzung mit der Aufgabe der Literatur im Kontext kommender medialer Entwicklungen. Voraussetzung dafür ist eine Perspektivwahl, die ein sprechendes, sich seiner Lage bewusstes Subjekt zum Ursprung hat aus dessen Blickwinkel heraus die Welt – wie groß oder klein sie auch sein mag – betrachtet wird. Dennoch werden wir in einigen Texten ein größeres oder geringeres Bewusstsein dafür vorfinden, dass die Literaturgeschichte, wie auch die Menschheitsgeschichte untrennbar auf der Akkumulation von Erfahrungen, Erinnerungen und deren Einordnung aufbauen. Wo wir in Gedichten von Kinsky vor genau solche Fragen nach Benennung und Umbenennung von Dingen und deren Einfluss auf die Umschreibung von Erinnerung gestellt werden, finden wir sie in ihren Essays und Romanen auserzählt. In ihrem neusten Roman „Hain“, der als „Geländeroman“ untertitelt ist führt uns die Autorin auf eine Reise ins italienische Olevano und die umliegenden Provinzen. Die Forderung Kinskys nach dem Herausschreiben des Selbst aus dem Text äußert sich in einer kargen Sprache, frei von plumpen Wertungen, in jedem Moment konzentriert auf die Beobachtung der Umgebung. Überdeutlich wird hier der Gewinn des Selbstverzichts, denn was aus ihm heraustritt, ist eine meisterliche, tröstende Ode an die Trauer und damit an das Leben. In „Hain“ lernen wir eine Figur kennen, die sich nicht vor einem kürzlich erlittenen Verlust in gängige Mechanismen der Trauerbewältigung flüchtet, deren Wirkkraft auf Mitleid – auch Selbstmitleid – fußt. Selten wurde eine derartig tiefgehende Befragung von Trauer und den Zusammenhängen, in die sie zu stellen weiß, verfasst. Selten fand jemand auf so schonungslose Weise einen Ausdruck für die Zweifel und Lähmungen, die uns bei Verlusten begleiten. Da ist also ein Jemand ganz bei sich angekommen, indem er auf das Ich verzichtet hat – und das ist mitnichten paradox. Das, was Literatur im besten Fall leisten kann und was Kinskys Literatur zu jeder Zeit leistet, ist die Neuordnung der Dinge, die Umbenennung zum Guten hin, zum Klugen – die Befreiung vom Sentiment hin zum Gefühl. Wer in der zerklüfteten Küste, im elastischen Gestein, im einsetzenden Regen die ungewisse, biegsame, grazile Erinnerung zu erkennen vermag, der wird sie zu formen wissen, den wird Kinsky auf eine Wanderung zugleich nach Draußen und nach Innen mitnehmen, auf der es unzählige Erfahrungen zu machen und Dinge über sich zu lernen gibt, die man nicht für möglich gehalten hatte.

 

Insel

Und dann erst küste klüftig.

Im nacken noch die wegrands
ersammelten wörter: bracken lichen
die starre von fichtenföhren brauner farn
die hellen flechten gelblich auf granit
lebendiges im schlaf und hier erst dieser wind
der alles zu boden beugt
etwa den hagedorn

ruft einer in den ton gebückt
der von nordwesten kommt
wo grau pulsiert
ein lichtorgan dünne schatten
zuteilt und verweist dort wo das grün liegt
ruft der eine wieder das ist schein

und drüben inseln dieses land
in stücken das mal fortwill mal zurück
und sich als trümmer gibt und ungewiss
der eigenen vergangenheit

danach setzt regen ein.

 

Wer den Christian-Wagner-Preis an Esther Kinsky vergibt, der zeichnet eine Autorin aus, die mit größter Konsequenz an einem einzigen Text arbeitet. In Essays, in Theaterstücken, in Romanen, in Gedichten – Esther Kinsky hat ihr Anliegen herausgefunden. Und ihr Anliegen ist nichts weniger, als die Welt, die sie sieht, zu benennen, umzubenennen und auf eine Weise zu dokumentieren, die ihr gerecht wird. Für diese Gerechtigkeit ist Kinsky bereit sich gänzlich aufzugeben. Es entsteht ein im höchsten Maße zeitgenössisches, tröstendes Werk, ein einziger, langer poetischer Text, gleich einer Reise, vor der wir uns ein Leben lang fürchten, im Wissen, dass das Antreten unvermeidbar sein wird. Ich gratuliere Esther Kinsky zum Erhalt des Christian-Wagner-Preises und freue mich darauf, mit Ihnen und ihr gemeinsam auf diese lange Reise gehen zu dürfen.