Rede zur geplanten Verleihung des Christian-Wagner-Preises am 21.11.2020, die aufgrund der geltenden Pandemieverordnungen nicht stattfinden kann.

 

Esther Kinsky

Dankrede anlässlich des Christian-Wagner-Preises 2020

 

Esther Kinsky / © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Es ist November 2020, die Blätter in Wien fallen nach Regen, Sturm, später Wärme und frühem Frost wie Schnee, während ich mich ans Verfassen dieser Dankrede mache, wohlwissend, dass ich sie nicht halten werde, sondern sie nur auf einer Seite im Netz zu lesen sein wird, eine denkbar unpersönliche Form der Präsentation. Es ist still an diesen Wiener Abenden, es herrscht eine Ausgangssperre, ein Eingriff in die Freiheit, wie ich ihn in Westeuropa noch nicht erlebt habe. Es bedarf einiger Anstrengung, durch das engmaschige Netz der Beschränkungen, Verbote, Vorschriften und zahlentrunkenen Nachrichtenmeldungen , die das Leben derzeit dominieren und in die Ecke drängen, die Natur zu erkennen, die der Auslöser all dieser Lebensveränderungen ist. Ein Virus wie dieses, das Anlass für Eingriffe in das Leben, in Freiheit und Gewohnheiten gibt, ist Natur pur, wie es in der Werbung für gesunde Produkte gerne heißt, und, wie es sich für Natur pur außerhalb der Werbung gehört, unkontrolliert und unkontrollierbar. Doch so hübsch es in graphischen Darstellungen auch anzusehen sein mag und so eindeutig es auch aktives Naturprodukt ist, es wird schwerlich zum Gegenstand eines poetischen Textes avancieren – ganz im Unterschied zu Disteln, Erlen, Schmetterlingen, deren Erscheinen weitaus harmlosere Folgen zeitigt.

Jede Zeit, jede Kultur schreibt auf ihre Weise über die Natur – als Idylle, Zuflucht, Lesebuch der Schöpfung, als Geheimnis, das es zu entschlüsseln gilt, mit Neugier oder Ehrfurcht, aus Distanz oder Nähe. Der Schwerpunkt liegt in der Regel auf Lieblichkeit, Schönheit, Reichtum, Großartigkeit, Ungeheuerlichkeit, auf dem, was sich zwischen Beschaulichkeit und Schaurigkeit ansiedeln lässt. Christian Wagner, Liebhaber von Disteln, Erlen, Schmetterlingen und freundlich-friedfertiger Geist, der über diesem Preis schwebt,  war als Poet durch seine Herkunft wie durch seine Art der Naturbetrachtung eine Ausnahme in seiner Zeit. Die Natur und Landschaft seiner Heimat war ihm die einseitig durchlässige Bildfläche der Zeitlosigkeit, auf der die Anemonen an Seelen denken lassen und schwebende Distelsamen die Träger von Botschaften sind, welche zu entziffern ein Alphabet nicht ausreicht. In ländlicher Armut und Arbeit wird er noch mehr von den Gefahren der dem bloßen menschlichen Auge unsichtbaren, unter dem Zuckerguss prangender Landschaft  lauernden Vertreter der Natur in Gestalt von Viren und Bakterien  zu spüren bekommen haben als wir heute in westeuropäischem Wohlstand. Kindstode, bedrohliche Infektionen, Parasiten gehörten zum Alltag. Die Gefahren, die das Leben bereithielt,  wurden unter Schicksal und seinem Instrumentarium verbucht und verhalfen der sichtbaren Natur, wie sie sich in Landschaft, Blüte, Wachstum und Welke manifestiert, zu ihrer Rolle als Trösterin, die auf vielschichtige Weise bei Wagner zum Ausdruck kommt. Vergänglichkeit und Tod gehören zum täglichen Leben und bilden den stets gegenwärtigen Hintergrund zu seinen Gedichten, die Natur erscheint als Vermittlerin zwischen Diesseits und Jenseits.

Christian Wagner gilt als der deutsche Bauerndichter, und als solcher hat er mich auch – wiewohl nur von ferne – interessiert, als ich mich vor einigen Jahren mit John Clare, dem König der englischen „peasant poets“, beschäftigte, der gut 50 Jahre vor Wagner in noch ärmlicheren Verhältnissen in Ostengland zur Welt kam. Was beide verbindet, ist die Intensität ihrer Wahrnehmung der sie umgebenden Welt, die sich in ihrer Lyrik niederschlägt, aber auch in ihren autobiographischen Fragmenten. Es ist keine kleine Welt, sie reicht, „bis zum Rand des Horizonts“, wie Clare es nannte, doch es ist keine Welt der großen Gesten. Sie ist voll kleiner Dinge und Szenen, die sich vor den Hintergrund unmittelbar erfahrener Natur ereignen.

Bauerndichter ist ein hübsches Wort (sofern man außer acht lässt, dass „Bauer“ auch ein herabsetzender Ausdruck für die sogenannten Groben, Unmanierlichen war), es gaukelt freundlich eine Verbindung von bodenständiger Robustheit mit dem Ätherischen der Muse vor. Doch geht es bei diesem vor langer Zeit geprägten Begriff ja weniger um das Bäuerlich-Erdige als darum, dass diese Dichter ohne die Brille der Bildung schrieben. Die den Bauerndichtern gleichsam vom „Oben“ der Gebildeten zugewiesenen Wahrnehmungsfilter waren eher Märchen als Mythologie, eher Aberglauben als Naturkunde, mehr Materie als Geist. Doch was beide Dichter – Wagner und Clare – neben ihren einfühlsamen, eher von inniger (ein schönes Wort, das es zu rehabilitieren gälte) Betrachtung  als von Wissen  geprägten lyrischen Bildern auszeichnet, ist eigentlich ihre Hinwendung zum Flüchtigsten, zum Ungreifbarsten und gleichzeitig stets Präsenten: zur Erinnerung. Auch ohne klassische Bildung erkennen sie in der Erinnerung die Mutter der Musen und wissen um die Bedeutung von Erinnerungen unabhängig von der historischen Größe oder konventionellen Bedeutsamkeit des Erinnerten. Es ist das Erinnern an sich, das sie als Dichter beschäftigt und so modern erscheinen lässt, das Geheimnis des Wiederaufsuchens eines Zustands  oder des Wieder-Aufgesuchtwerdens durch einen Zustand, vermittelt über Sinneswahrnehmung, über Duft, Licht, Farbe, Textur. Doch was Clare und Wagner auch auszeichnet – und das hat nun gar nichts mehr mit Bauerntum zu tun – ist die Frage nach den eigenen Spuren in der materiellen Welt, die Befragung der Natur auf ein Weiterleben der Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken, ein Überleben von Wesen oder Seele in der sichtbaren Natur. Ihr dichterisches Benennen der Welt erscheint wie ein Bemühen, die Welt im Kopf dem Wahrgenommenen und Wahrnehmbaren, kurz der „Natur“ ,einzuschreiben. Der Naturbegriff ist dabei nicht weit gefasst, es geht um Landschaft, um das Sichtbare, Konkrete, wie Bäume, Blumen, Mond, die Dinge, in denen sich Zeit und Vergänglichkeit manifestieren. Sind es Idyllen? Schwer zu sagen. Beschaulich sind sie nicht unbedingt, und durch alle Gedichte ziehen sich mehr oder weniger deutlich  existentielle Fragen an die Welt, doch allein die Ruhe, die offensichtliche Muße der Hingabe des beschreibenden Betrachters lässt die Szenerien aus heutiger Sicht idyllenhaft erscheinen. Vielleicht ist es die Aufgehobenheit menschlicher Gemütszustände in der Natur, die zu diesem Eindruck beiträgt, eine Art zeitloser immaterieller Zugehörigkeit, die bei Wagner ihre Bestätigung durch die immer wieder erwähnten Falter und  Schmetterlinge erhält, geflügelte Boten, die zwischen den Zeiten und zwischen den Welten von Leben und Tod unterwegs sind. Als Bild im Gedicht schlagen sie für den heutigen Leser eine Brücke zwischen dem Schmetterling als Todessymbol der Antike und dem „Schmetterling auf Todes lockrer Wimper“ in Ernst Meisters hermetischer Dichtung der Nachkriegszeit.

Das Schreiben über Natur auf deutsch wurde schwierig nach Nationalsozialismus und  Krieg. Die Ideologie hatte die sichtbare Natur okkupiert, der Mensch hatte sich der Natur auf unauslöschlich grausige Weise eingeschrieben. Wenige Namen wie Eich, Huchel, Bobrowski ragen als naturbezogene Dichter heraus, sie fanden eine Sprache, die sich nicht in den Fußangeln ideologisch verfärbter und belasteter Naturbetrachtung verfing. Die Natur mit Himmel und Erde nahmen sie als ein Lesebuch der Welt und ihrer Mythen und Rätsel in kleiner Schrift, die es zu entziffern galt. Alles war unweigerlich an Endlichkeit und Vergänglichkeit, an Verlust orientiert. Heute ist das Schreiben über Natur Programm geworden, eine eigene Sparte, vielleicht ein hilfloser Versuch, Schwindendes zu halten oder zumindest es im Schwinden zu begreifen. Das, was wir gerne unter „Natur“ verstehen, ist materiell, existentiell bedroht, und beim Schreiben über Natur geht es um eine Bestandsaufnahme, ein Gedenken durch Benennen auf dem weiten gestörten Gelände der besiedelten Welt.

Christian Wagner traf erst spät, in der italienischen Fremde, auf ein gestörtes Gelände avant la lettre, das ihn beschäftigte. Mit einer selten anzutreffenden Unvoreingenommentheit und Offenheit war er als älterer Mann ins Unbekannte gereist. Aus seinen Aufzeichnungen spricht der erklärte Wunsch, sich diesem Fremden – Sprache, Landschaft, Kunst – intuitiv zu überlassen. Er lauscht auf den Klang der Sprache, beobachtet Gesten und Mienen, er geht über den versehrten Boden von Pompeji mit seinem für Gladiatorenkämpfe errichteten Amphitheater

O sieh, o sieh: Den mordbefleckten Boden
Hat übersponnen ganz die weiße Winde,
Als wollte sie hinweg die Bluttat roden.

Der Schauplatz menschlicher Grausamkeiten wird eingeholt von der Flora, den anspruchslosen Kriechgewächsen, die auch im unwirtlichsten Boden Halt finden. Was ist mehr „Natur“ mag man sich fragen – die Blume oder die Grausamkeit der Spiele, die den Boden besudelt haben?  Deckt die Natur mit den Blumen die Spuren der eigenen Verwüstung? Bei diesen Zeilen kommen mir die Bilder von hüfthohen Gras auf dem Gelände von Treblinka, in Claude Lanzmanns Film Shoah in den Sinn, und eine in den 1980er Jahren entstandene Serie von Fotografien des Bodens entlang dem Zaun um das Gelände von Auschwitz. Anemonen und Ackerwinde mögen dort noch vorkommen, doch als  dekontaminierende Besänftiger haben sie angesichts der Historie ausgedient.

Heute ist das Interesse an den Formen und Vorgängen der Natur bei gleichzeitigem zerstörenden Raubbau überwältigend.  In jeder Buchhandlung wimmelt es von Lob- und Abgesängen auf Schönes, Wunderliches, lauter Natürliches. Natur ist Wissensgebiet oder Ausbeutungsfeld, zwischen diesen beiden Zonen zieht sich der schmale Pfad der Beschaulichkeit, auf dem sich schauend, gärtnernd, Erholung suchend bewegt, wer es sich leisten kann. Doch die eigene Endlichkeit, die unumgängliche Tatsache der Sterblichkeit ist dabei nicht mehr – wie zu Wagners Zeiten – Gegenstand für gedankliche Auseinandersetzung. Quantitäten beherrschen den Diskurs, nicht mehr Qualitäten. Jenseits von Wald und Feld als tröstlichem und beruhigendem Rückzugsort, jenseits von Disteln, Erlen, Schmetterlingen regt sich bei der Konfrontation mit Krankheit und Ansteckung auch  Angst vor Natur, vor den Unwägbarkeiten unter der Oberfläche, wo es brodelt von unappetitlichen Lebensformen. Mag sein, dass Falter und Distelsamen auch bald zu den suspekten Erscheinungen gezählt werden, nicht mehr als Vermittler, sondern nur noch als Überträger. Die Erlen lassen unterdessen ihr Laub, die Falter verschwinden, in den Parks sammeln sich die Krähen, die winters von Russland nach Wien kommen, noch ungehindert, die schiere Schönheit vieler Dinge bleibt ein Trost.

Ich danke für diesen Preis in diesem schwierigen Jahr und für die damit verbundene Einladung zur Beschäftigung mit Christian Wagner, einem Dichter mit einem so eigenen Blick auf die Welt, die ihn umgab.