Artikel in der Stuttgarter Zeitung, Rubrik „Reportage“, am 15. 2. 2018, zum 100. Todestag Christian Wagners

Jan Sellner

Der Weise aus Warmbronn

Christian Wagner war ein kleiner Bauer und ein großer Dichter. Vor 100 Jahren ist er gestorben.
Erinnerung an einen Unzeitgemäßen, dessen Denken aktueller ist denn je.

Wie vermessen ist es doch, aus dem Abstand von 100 Jahren einen Menschen porträtieren zu wollen, auch wenn dieser Mensch – Christian Wagner – eine Modernität besitzt, die ihn nah an die Gegenwart heranrücken lässt. Gleichzeitig wäre es sträflich, den Versuch zu unterlassen, weil seine Geschichte höchst ungewöhnlich ist: Christian Wagner war Bauer, Dichter und vor fast allen anderen Tierschützer, Naturschützer, Pazifist.

Als dieser moderne Mann am 5. August 1835 geboren wurde, war weder die Briefmarke (1840) erfunden, noch der Kühlschrank (1859) oder die Schreibmaschine (1873). Bei der Erfindung des Autos (1885/86) war Christian Wagner 50 Jahre alt und hatte in Stutgart gerade einen Verleger für seinen ersten Gedichtband ausfindig gemacht, dessen Druck er selbst bezahlte. Ein vermeintlich Spätberufener. Tatsächlich schrieb er schon in jungen Jahren Gedichte. Bis zu seinem Tod brachte er es auf zehn Bände, darunter auch Prosa. Bekannt wurden seine „Sonntagsgänge“.

Die Lebensdaten erlauben eine grobe Personenskizze: Christian Wagner wurde im selben Ort geboren, in dem er 83 Jahre später starb: in Warmbronn bei Leonberg. Das 700-Einwohner-Dorf lag vollkommen eingebettet in die damalige obrigkeitsstaatliche Zeit. Ebenso vollkommen war Wagner aus der Zeit gefallen. Sein Horizont reichte weit über Warmbronn hinaus. Mindestens bis zum Mars, zu dem sein lyrisches Ich in „Oswald und Klara“ aufbrach und dort – fast prophetisch  – mit Solarenergie betriebene Gebäude entdeckte.

Wagners Vater war Schreiner, der nebenher eine Landwirtschaft betrieb. Seine Mutter entstammt einer Lehrerfamilie. Dieser Beruf war auch für Christian vorgesehen, das einzige Kind. Doch dafür fehlte das Geld. Mit 14 verließ er die Volksschule: seine Hände, so schmächtig sie waren, wurden auf dem Feld gebraucht.

Bald schlug das Leben in alle Richtungen aus, Freude und Trauer wechselten in extremer Weise. 1865 heriatete Wagner die Warmbronnerin Manna Maria Glatzle. Ein Jahr später starb sein Vater, am Tag der Geburt seines ersten Sohnes, 1867 seine Mutter. Das Kind wurde drei Wochen alt. Aus dieser Zeit stammt Wagners Gedichtsammlung „Lieder des Leids“.

Diese Melodie prägte auch die folgenden Jahre: 1868 und 1869 starben die beiden nächsten Kinder. 1870 verlor er seine Frau bei der Geburt eines weiteren Sohnes, den er 1871 zu Grabe trug. Im selben Jahr heiratete Wagner ein zweites Mal: Christiane (Nane) Kienle, eine Cousine. Auch aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor. Alle vier überlebten ihn. Seine Frau starb 1892, Wagner 26 Jahre später am 15. Februar 1918 als erfahrungssatter, lebensweise Mann, der an den Schicksalsschlägen nicht zerbrochen, sondern mithilfe des Schreibens daran gewachsen war. Zu seiner Beerdigung strömten 2000 Menschen. Kurt Tucholsky, von dem es heißt, er habe als Soldat einen Band mit Wagner-Gedichten bei sich geführt, schrieb 1919: „Er war ein in sich gekehrter Künstler und wohl wert, dass wir ihn alle läsen und verehrten.“

Farbe erhält diese Wagner-Skizze im Gespräch mit zwei Kennern: Axel Kuhn, Zweiter Vorsitzender der Christian-Wagner-Gesellschaft, und Karl Kollmann, Gründungsmitglied derselben und maßgeblich daran beteiligt, dass das Wohnhaus Wagners mit dem frisch renovierten Museum noch steht. In den 1970er Jahren, als der Zeitgeist der Geschichtsvergessenheit wehte, sollte es einem Supermarkt weichen. Für den Dichter war eine „Gedenk-Ecke“ vorgesehen. Dieses trostlose Ansinnen bildete den Anstoß zur Gründung der Christian-Wagner-Gesellschaft 1972 mit heute rund 270 Mitgliedern. Durch vielfältige Aktivitäten, darunter die Auslobung eimes Lyrikpreises, ist es ihr gelungen, Wagner stärker ins Bewusstsein zu rücken.

Ein Treffen mit diesen beiden Wagnerianern an Ort und Stelle lässt die Figur Christian Wagner plastisch hervortreten. Axel Kuhn (74) war Professor für Neuere Geschichte in Stuttgart, Karl Kollmann (79) leitete die Motorenentwicklung bei Daimler. Der Dichter, der knitz von den Wänden des Museums blickt, hat sie gleichermaßen gepackt.

Was macht den kleinen Mann mit dem markanten Backenbart so besonders? Kuhn und Kollmann werfen sich Blicke zu, als bestünde die Schwierigkeit darin, aus vielen möglichen Antworten auszuwählen.

„Wagner hat 50-60 Gedichte für die Ewigkeit verfasst“, beginnt Kuhn. aus ihnen spricht ein intensives Naturerleben. Sein Blick ging über die Scholle , die er bearbeitete, hinaus. Er schweifte weit ab. Bei ausgedehnte Spaziergängen durch Wald und Flur nahm er größere Zusammenhänge in den Blick. Wagner, der religiös gestimmt, aber kirchenfern war, entwickelte eine Art Natur-Religion mit Anklängen an Hinduismus und Pantheismus. Die Natur hielt er für besselt, er glaubte an Wiederverkörperung und Wiederkehr. Im pietistisch geprägten Warmbronn galt Wagner als Heide. Kritik begegnete er mit dem Satz, lieber sei er ein barmherziger Heide als ein unbarmherziger Christ.

So fein sich seine Lyrik liest, so kraftvoll und unerschrocken waren seine Eingaben bei der Obrigkeit – etwa gegen die ihm unerträgliche Singvogeljagd. Die Nachwelt blickt auf einen Natur- und Tierschützer ersten Ranges. SElten aß er Fleisch. Er schrieb: „Ich möchte eine größere Wertschätzung des Lebens einführen, nicht gleich der Menschenschätzung nach Mark oder Gulden, sondern nach seinem eigentlichen unbezahlbaren Lebenswert, wo das Gnadenbrot äßen in deinem Hause bis an ihr Ende die Gespiuelen deiner Kinder, das Kätzchen und der Hund sowie (…) die milchgebende Kuh und die eierlegende Henne. – Wo der Markstein stünde gegen die Härte, den Eigennutz und den Undank der Menschen.“

Legendär – und belegt – ist die Geschichte, dass Wagner 1876 einem Warmbronner Gastwirt drei zur Mast bestimmte Gänse abkaufte. 35 Jahre lang begleiteten sie ihn durch den Ort. Verbürgt ist auch die Geschichte von einem aus dem Nest gefallenen Raben, den Wagner aufzog und der ihn später regelmäßig besuchte – bis er einem Bauern vor die Flinte kam. Wagner stopfte den Raben aus, er steht heute noch in seiner ehemaligen Stube.

Ein Tierflüsterer scheint er gewesen zu sein. Wagners Katze, so wird berichtet, wartete am Ortsrand auf ihn, wenn er zu Fuß aus Stuttgart zurückkehrte, wohin es ihn der Bücher wegen immer wieder zog. Hans Erich Blaich, Herausgeber des „Simplicissimus“, zeichnete in einem Brief an Tucholsky 1916 dieses archaische Wagner-Bild: „Still sitzt er, wie man mir erzählt, in seiner Stube; die Katzen steigen an ihm auf und ab wie die Engel an der Jakobsleiter.“

Der Kleinbauer mit den großen Gedanken verehrte das Leben in allen seinen Erscheinungsformen. Wgner lehnte es ab, mit Gift und Fallen gegen Ungeziefer vorzugehen. Die Unterscheidung in „Nutztier“ und „Schädlinge“ hielt er für eine Anmaßung. Sein unbedingtes Ja zum Leben ließ ihn seinen Imperativ formulieren: die Notwendigkeit „von der möglichsten Schonung alles Lebendigen“ – ein Schlüsselsatz zum Verständnis Wagners.

Dass der bekennende Eigenbrötler quer zu seiner Zeit stand, zeigt sich auch in sozialen Fragen. Wagner setzt sich für italienische Gastarbeiter ein und für das ungeliebte „fahrende Volk“. Gleichzeitig geißelte er die Amtsanmaßung der Landjäger. Sein soziale Gewissen schlug laut – ohne sozial Schwache zu idealisieren. Wagner kritisierte auch den „vornehmen“ wie auch den „geringen Pöbel“. Die einen, weil sie sich den Armen bereicherten, die anderen, weil sie sich korrumpieren ließen. Der „Knechtsinn“, den er bei vielen Mitmenschen feststellte, war ihm, dem Freigeist, zuwieder.

Kompromisslos verhielt sich Wagner zum Krieg. Als einer der wenigen Dichter weigerte er sich, bei Ausbruch des ersten Weltkriegs Hetzgedichte zu verfassen. „Das Heldentum des Nitroglyzerins erkennen wir nicht an“, schrieb der Pazifist an den 42 Jahre jüngeren Hermann Hesse, der ihm verbunden war und 1913 einen Gedichtband für ihn herausgab. Auch gegen die Niederschlagung des Herero-Aufstands im damaligen Deutsch-Südwest-Afrika erhob er die Stimme. Gleichzeitig hielt er Distanz zu Parteien. Wagner zu vereinnahmen ist niemandem gelungen. Auch später nicht. Dafür zahlte er den „Preis des Vergessens“, wie Kollmann sagt.

Zu Lebzeiten war er bekannt und wurde zunehmend anerkannt. Um 1900 setzte ein regelrechter Wagner-Tourismus ein, Warmbronn wurde zum Ausflugsziel für Intelektuelle und Lenensreformer. Selbst aus dem Berliner Friedrichshagener Dichterkreis reisten Wagner-Verehrer wie Bruno Wille und Gustav Landauer an, um die Inspirationsquelle aufzusuchen. Auch Wagner selbst ging auf Reisen, nach Italien und die Schweiz.

Trotz Unterstützung durch die Deutsche Schillerstiftung in Weimar und den württembergischen König kam er über bescheidene Verhältnisse nie hinaus. Mit dem Geld, das er mit seinen Büchern verdiente, half er der Familie seines Schwiegersohnes, der als Wildereer ertappt worden war und sich das Leben genommen hatte. Dichtung und soziale Tat bildeten bei Wagner eine Einheit. „Denn wie ich schreibe und lehre, so lebe ich auch, und meine Lehre ist kein leeres Geschwätz“, so formulierte er. Heute würde man sagen: Wagner war durch und durch authentisch. Und ist schon deshalb höchst aktuell. Oder wie es Wagner-gemäß wäre zu sagen: höchst lebendig.

 

Kannst Du wissen, ob von Deinem Hauche
Nicht Atome sind am Rosenstrauche?
Ob die Wonnen, die dahingezogen,
nicht als Röslein wieder angeflogen?
Ob dein einstig Kindesatemholen
Dich nicht grüßt im Duft der Nachtviolen?

aus Christian Wagners Gedichtesammlung „Sonntagsgänge“, dritter Teil