Vortrag am 11. 3. 2018 im Christian Wagner-Haus

Lars-Broder Keil

„Ein Anarchist reist nach Warmbronn“
Gustav Landauer und seine feurigen Gespräche mit Christian Wagner

 

Dies ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Begegnung und Beziehung, die von Freude, Trauer und Liebe gekennzeichnet ist – also vom Leben.

Am Morgen des 15. Februar 1918 wird der Tod des Dichters Christian Wagner festgestellt. Bereits in der Abendausgabe von gleichen Tag können die Leser des „Berliner Tageblatts“ einen Nachruf lesen, in dem es unter anderem heißt:

„In dem Mann, der hinter dem Pflug einherschritt, lebte eine durchaus erdgebundene Dichterkraft, eine wundersame, nachdenkliche, beinahe grüblerische Begabung und ein klar und farbig gestaltender Sinn. (…) Die Verse, die er auf dem Acker niederschrieb, während er nach schwerer körperlicher Arbeit ruhte, sind feiertäglicher Stimmung voll. Es sind Dichtungen, die weit über die Enge der Heimat, ja über die Welt des Erlebbaren hinaus in geistige Bezirke greifen, die für einen „Bauerndichter“ nicht gerade naheliegen. (…) Literarische Kreise begannen sich für ihn zu interessieren.“

Zu diesen Kreisen, die sich für Wagner interessierten, gehört auch der Friedrichshagener Dichterkreis, zu dem wir den Schriftsteller, Kulturphilosophen und Anarchisten Gustav Landauer zählen können.

Beim Blick in seine Korrespondenz unmittelbar nach dem 15. Februar ist kein Hinweis auf Wagners Tod zu finden. Das muss man Landauer nachsehen, denn nur eine Woche später, am 21. Februar 1918, stirbt seine Frau Hedwig Lachmann, was Landauer natürlich sehr erschüttert. So schreibt er am 26. Februar aus Kulmbach (Schwaben) an seinen Freund Fritz Mauthner:

„Nichts fällt mir jetzt schwerer als Schreiben, viel schwerer als Reden. Auch schreibe ich jetzt noch an keinen Menschen. (…) Sie war hier ganz glücklich, harmonisch und gesund; und das Entsetzen des Krieges parierte sie mit aktiven Kräften und mit ihrer Einigkeit mit mir bis ins Innerste. (…) Dann kam die Lungenentzündung mit so ungeheurer Gewalt, dass das Herz nicht Stand hielt.“

Das Ehepaar Landauer und den Dichter Christian Wagner verbindet eine besondere Beziehung, die ihren Anfang im Jahr 1899 nimmt:

In den letzten Monaten vor der Jahrhundertwende ist der 29-jährige Gustav Landauer (1870–1919) vor allem ein unglücklicher Mensch in seiner bislang größten Lebens- und Schaffenskrise. Die Ehe mit der Schneiderin Margarethe (Grete) Leuschner kriselt, verstärkt durch den Tod einer Tochter und eine neue Liebe. Am 28. Februar 1899 hat Landauer die Lyrikerin und Übersetzerin Hedwig Lachmann (1865–1918) bei einer Lesung in Berlin kennengelernt. Als seine Frau einen seiner Liebesbriefe entdeckt, kommt es zum endgültigen Bruch. Am 4. Mai 1899 zieht Landauer aus der gemeinsamen Wohnung in Friedrichshagen aus und verlässt auch den Ort.

Zudem steht ihm eine mehrmonatige Haft im Strafgefängnis Tegel bevor. Landauer hat sich für einen wegen Mordes verurteilten Barbier eingesetzt, der 1899 seit 16 Jahren in Haft sitzt und den er für unschuldig hält. Deshalb hat er wiederholt und öffentlich den zuständigen Polizeikommissar beschuldigt, bei der Untersuchung wichtige Dokumente gefälscht zu haben – „verleumderische Beleidigung“ ist das, hat ein Gericht entschieden.

Das wiederum lässt die ohnehin angespannte finanzielle Lage Landauers noch prekärer werden. Sein Vater, ein Schuhwarenhändler, hat die Zahlungen an seinen Sohn schon länger eingestellt, wegen der, wie er findet, nicht standesgemäßen Ehe mit Grete. Landauers Haupteinnahmequelle, die Zeitung „Sozialist“, droht durch die Haft zu versiegen. Tatsächlich wird das Blatt Ende 1899 eingestellt.

Einziger Lichtblick ist für ihn Hedwig Lachmann, die er mit Liebesbriefen geradezu überschüttet. Lachmann wird 1865 in der Provinz Pommern als Tochter eines Kantors geboren. Sie besteht bereits mit 15 Jahren ihr Examen als Sprachlehrerin in Augsburg, geht später als Erzieherin nach England, lässt sich in Dresden nieder, um anschließend in Budapest zu arbeiten. 1889 zieht Hedwig Lachmann nach Berlin, wo erstmals Übersetzungen von ihr erscheinen.

Am 6. Mai 1899 schreibt Landauer ihr:

„Der Abschied von meiner Frau war so, dass wie beide stolz darauf sein dürften: Bitterböse Tage waren vorausgegangen.“ Aber er sei auch ein „Liebender mit gewaltiger Sehnsucht im Herzen“. – „Hedwig Lachmann, ich habe mich redlich geprüft, diesmal bin ich es selber, der Sie fürs Leben zur Gefährtin haben will, Sie ganz und gar.“

Doch die Angebetete ziert sich. Landauer versucht es mit romantischem Beiwerk oder einem „emotionalen Türöffner“, wie Ulrich Linse das formuliert, Mit Gedichten. Am 25. Mai 1899 notiert er am Ende seiner Zeilen: „Das leere Blatt sei mit ein paar schönen Versen Christian Wagners, des schwäbischen Bauern beschrieben.“ Es sind nachdenkliche Verse, sie so beginnen: „Es war ein Glückstag heute, ich glaub es nimmermehr/Es ging der Tag vorüber so kalt und freudenleer […]“. Wenige Tage oder Wochen später zitiert Landauer erneut Wagner-Verse. Offenbar mit Erfolg, zumindest, was die Aufmerksamkeit Hedwigs für Wagner betrifft. Denn Hedwig erbittet Bücher von ihm, später wird sie über ihren ersten Eindruck schreiben: „Seine Gedichte haben mich tief ergriffen, ohne dass ich mir von seiner Person die geringste Vorstellung machen konnte.“

Es ist nicht die erste Berührung der Friedrichshagener mit Wagner, die zu jener Zeit eine wichtige Rolle im Kulturbetrieb spielen, vor allem als Anreger und Förderer bekannt und gefragt sind, in gewisser Weise als Institution, deren Urteil Gewicht hat. Dieser Dichterkreis, der von seinen Protagonisten selbst nicht so genannt wird, ist von jungen Literaten, Intellektuellen, Lebensreformern und Anarchisten Anfang der 1890er-Jahre gebildet worden. Sie alle sind zwischen den Jahren 1880 und 1890 nach Berlin gekommen und zu diesem Zeitpunkt 20 bis 30 Jahre alt gewesen, angezogen vom Ruf der Hauptstadt und mit dem festen Willen sowie einer großen Portion Selbstbewusstsein ausgestattet, den Kulturbetrieb umzukrempeln und Karriere zu machen.
Berühmte Schriftsteller und Künstler werden die Wenigsten, doch ihr Veränderungswille hat sich auf Gebiete ausgedehnt, auf denen sie erfolgreicher sind und Bleibendes geschaffen haben: im Bereich Bildung mit Volksbühnen und Volkshochschulen, im Bereich der Lebensreform mit der Gartenstadt- und Genossenschaftsbewegung oder in der Politik mit ihrem Eintreten für soziale Belange, vor allem durch ein Engagement in der Sozialdemokratie. Und sie haben erfolgreich als „Kulturmanager“ fungiert, geschickt darin, Talente zu fördern. Nach Friedrichshagen, damals noch ein Ort „Hinter der Weltstadt“, hat es sie verschlagen, weil sie der „Moloch“ sie abgestoßen hat.
Gustav Landauer, in Karlsruhe geboren, siedelt 1897 für knapp drei Jahre ins ländliche Friedrichshagen um, zuvor hat er mit seiner Frau Grete Leuschner einmal für wenige Wochen dort ein Zimmer gemietet, als diese sich von einer Nierenerkrankung erholen muss. Nach Trennung von ihr und Weggang 1899 zieht er wieder weg, bleibt Landauer aber dem Kreis verbunden. Er lebt seit 1889 mit Unterbrechungen in Berlin, zunächst als Student, wo er in den von Handwerkern, Kleinbürgern und Arbeitern bevölkerten, hochverdichteten Quartieren die sozialen Folgen der raschen industriellen Revolution studieren kann. Bereits 1891 siedelt er in den Berliner Westen um, zu dieser Zeit reine Wohnquartiere mit hohen Standards, die weit bessere Lebensmöglichkeiten bieten, wo sich aber auch Literaten, Künstler und Journalisten treffen, eine kreative Szene, in der sich der junge Landauer wohlfühlt. Ab Mitte Februar 1893 übernimmt er die Redaktion des „Sozialist“, bekennt sich zu den „Unabhängigen Sozialisten“. Der Theaterfreund ist aber auch einer der Mitbegründer der „Neuen Freien Volksbühne“, an der viele Werke der beginnenden Moderne aufgeführt werden. Hauptorganisator ist Bruno Wille.
Der Mitbegründer auch des Friedrichshagener Dichterkreises hat sich schon vor Gustav Landauer mit Wagner beschäftigt und ihn 1895 mit einer Rezension im „Magazin für die Litteratur“ einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Interessiert an dem Dichter in Warmbronn ist auch Julius Hart, der 1899 ein längeres Porträt in der Halbmonatsschrift „Die Gesellschaft“ veröffentlicht. Für sie verkörpert Wagner all das, was sie in ihren gesellschaftlichen Vorstellungen und Utopien ausmalen.
Wille und Hart beeindruckt an Wagner, dass hier ein Mann, der seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht mit der Landwirtschaft verdient, sich selbst bildet und künstlerisch tätig wird. Der damit ihre Auffassung bestätigt, Bildung habe nicht nur mit Herkunft und Einkommen zu tun. Zum anderen fasziniert die Friedrichshagener das Landleben, das Wagner führt. Sie selbst haben ja der Großstadt Berlin mit ihren sozialen Brennpunkten den Rücken gekehrt. Dass Wagner sich sein Leben nicht ausgesucht hat, sondern hineingeboren wurde, blendeten die Friedrichshagener gern aus. Drittens schließlich sollte man davon ausgehen, dass die Friedrichshagener sich von der Lyrik Wagners angesprochen gefühlt haben, seiner bildstarken und zugleich sensiblen Sprache. So lobt Wille die poetischen Versuche, die „den ganzen Jammer der zertretenen, misshandelten Natur“ mitfühlen lassen. Ausdrücklich erwähnt er, dass Wagner „gegen die rohe Selbstsucht seiner Umgebung“ protestiert. Er nennt ihn auch einen „Gedankenverwandten“.
Dazu muss man wissen, dass die Friedrichshagener um 1900 begonnen haben, ihre Einstellung, ihre Rituale und letztlich ihre künstlerischen Ansätze zu überdenken. Der Sieg der Naturwissenschaft, einst von ihnen gefeiert, hat Unbehagen ausgelöst, die zunehmende Industrialisierung und die sich abzeichnenden sozialen und geistigen Umwälzungen haben Zweifel wachsen lassen, die in die Frage münden, inwieweit der menschliche Geist noch dominieren kann. Etwas Neues muss her, eine neue „Weltanschauung“ – das Zauberwort jener Zeit. Diese neue Weltanschauung sollte Mensch und Natur versöhnen, Materie und Geist, Wissenschaft und Religion. In dieser einheitlichen Sicht, Monismus genannt, sollte der Mensch nicht mehr über der Natur stehen, sondern sich als deren Teil anerkennen und der Natur wiederum seelisches Leben zugestehen – alles Dinge und Gedanken, die sie offenkundig auch bei Wagner entdeckt haben.
Julius Hart moniert zum Beispiel, dass die neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Fachwissenschaft beschränkt geblieben und nicht zur allgemeinen philosophischen Erkenntnis geworden seien. Und hier kommt für Hart eben Wagner ins Spiel, der „Warmbronner Dorfphilosoph“. Dieser habe „die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse dieses Jahrhunderts mit einer jugendlich-frischen, noch ungebrochenen und kräftigen Einbildungskraft verarbeitet“.

Landauer lehnt die Thesen zum Monismus ab. Diese neuen „fix und fertigen Weltanschauungen“ seien nur das Werk „naiver Spekulanten“. Wie sich die Menschen zueinander verhalten, sei keine Weltangelegenheit, sondern Menschensache.

Wie wird Landauer auf Wagner aufmerksam? Möglicherweise kennt er Willes frühere Rezension von 1895, sicherlich aber die Wagner-Monographie von Richard Weltrich, die im Jahr vor der Kontaktaufnahme erschienen ist. Möglicherweise tauscht er sich darüber mit Wille aus, der 1899 noch immer mit Wagner brieflich in Kontakt steht und mit dem Landauer Spaziergänge unternimmt. Jedenfalls hat er Wagner-Werke parat, um daraus zu zitieren.

Was denkt Landauer über Christian Wagner? Was verspricht sich der Anarchist, der Kaufmannssohn und Großstädter, der Intellektuelle und Sozialist von Wagner, dem Bauern, Autodidakten, dem Einzelgänger und Grübler? Wie lässt sich das Verhältnis beider zueinander werten, und ist gar ein gegenseitiger Austausch erkennbar?
Eine Quelle sind natürlich die Schilderungen seiner Besuche. Bruno WillIe, der Wagner auch besucht hat, hat dies versäumt. Landauer nicht. Er überliefert sehr subjektive Sichten auf Wagner, flüchtige Eindrücke mitunter, aber bildreiche Charakterisierungen. Überliefert sind zudem zehn Briefe – sechs von Landauer an Wagner, vier von Wagner an Landauer – aus der Zeit von 1899 bis 1915. Hinweise lassen vermuten, dass es weitere gegeben hat. Auch Hedwig Lachmann hat sich über Wagner geäußert. Kontakt hat aus den Berliner Anarchistenkreisen zudem der Journalist Albert Weidner, Landauers Mitstreiter. Seine Schreiben konnte ich auch dank der Mithilfe von Axel Kuhn und Karl Kollmann von der Christian-Wagner-Gesellschaft in Warmbronn verwenden.
Als feststeht, dass er mit seinem Vetter nach Süddeutschland reist, ergreift Landauer im Sommer 1899 die Gelegenheit zu einem Besuch. Auf seine Ankündigung antwortet Wagner am 6. Juli 1899:
„Geehrter Herr, Danke bestens für den lieben Brief mit der freundlichen Ansage Ihres Besuches hier in Warmbronn. Es wird mich sehr freuen, einige Stunden in vollster Gemütlichkeit mit Ihnen verbringen zu können, Sie in meiner bescheidenen Wohnung begrüßen zu dürfen.“
Der Besuch am 11. Juli zusammen mit Hedwig Lachmann und seinem Vetter Siegfried hinterlässt bei Landauer Eindruck. Am 14. Juli schreibt er Hedwig voller Sehnsucht aus Biberach, er ist ohne sie weitergereist, Wagner zitierend: „Um Gottes Wille, um Gottes Wille … wie sehr verstehe ich, dass ein abgemühter und zusammengerackerter Mann von der Großheit Chr. Wagners sich diese Worte im Alter so angewöhnt hat. Um Gottes Wille Hedwig Lachmann, wie sind Sie lieb und schön zu mir gewesen, und wie schwer liegt mir das alles auf dem Herzen. (…) Ich kann jetzt nicht mehr schreiben; meine Seele ist heute noch asthmatisch.“
Zwei Tage später schreibt er ihr, nun in der Schweiz: „Sowie ich Stimmung finde, werde ich unserem Wagner einen großen Brief schreiben.“ Am 20. Juli 1899 teilt er Lachmann mit, dass er Hugo, einem weiteren Vetter, „ab und zu“ aus Wagner vorlese.
Nach der Rückkehr beschreibt er die Begegnung mit Wagner in einem kurzen Text in seiner Zeitschrift „Sozialist“. Auffallend ist der rührselige, fast boulevardeske Stil, der Historiker Ulrich Linse, der Landauers Beziehung zu Wagner untersucht hat, ist an eine Märchenerzählung erinnert.
Landauer: „Es steht in schwäbischen Landen eine alte, elende Hütte, und in dieser Hütte lebt ein alter Mann mit dem müden zerfallenen Körper eines sehr armen, sehr abgerackerten Bäuerleins, und in diesem Körper wohnt eine strahlende, fürstliche, herrische und prophetische Seele. Fraget doch diese Seele wie sie in diese Behausung hineingeraten sei, wie sie plötzlich, nach langen dumpfen Jahren der Betäubung und Ohnmacht, zu sich selbst gekommen ist, fraget doch unseren Dichter Christian Wagner, wie er zu diesem genialen Formgefühl, zu dieser stolzen Schlichtheit, zu dieser unerhörten Gewalt der Worte zu dieser wundervollen Intuition gekommen sei? Fraget diese Seele, woher es wohl komme, dass allenthalben die Schönheit sich an sie anschmiege wie das Kind an die Mutter? Sie wird stumm bleiben, weil sie es selber nicht weiß.“
Die Ausgabe des „Sozialist“ ist eine Sonderausgabe, die ausschließlich Goethe gewidmet wird. Indem Landauer darin auch seine Eindrücke von Wagner druckt, stellt er ihn in die Nähe des berühmten Dichters.
Unmittelbar nach Erscheinen des „Goethehefts“ muss Landauer ins Gefängnis. Von dort schreibt er am 13. September 1899 an Hedwig Lachmann: „Von unserm lieben Christian Wagner habe ich in diesen Tagen einen Brief erhalten, den ich Ihnen hier beilege. Auf mich hat er einen tiefen und rührenden Eindruck gemacht, aber ich glaube, den Brief fasst nur der recht auf, der den Mann persönlich kennt, wie wir zwei.“
Lachmann schreibt am 26. Juli einer Freundin über Wagner: „Er ist ein tiefes Wunder. Er ist der schlichteste Bauer, lebt in den elendesten Häuschen und führt ganz das Leben des Landmanns. Du sollst seine Schriften kennenlernen. Ich besitze sie u. bringe sie Dir mit.“
Das von Landauer angesprochene und erbetene Schreiben Wagners stammt vom 27. August – es wird das längste ihres Briefwechsels sein. Er bedankt sich darin für die Kritik im Goethe-Heft, entschuldigt sich für die späte Antwort, woran die harte Erntearbeit eine Schuld trage.
„Lieber und sehr geehrter Herr Landauer,
(…) Seit dem Eintreffen Ihrer Botschaften verging kein Tag, an dem ich nicht Ihrer in Liebe und Verehrung gedachte; aber es wäre eine Verunehrung, eine Missachtung gewesen, wenn ich Ihnen einen von Müdigkeit und Abgerackertheit diktieren, matten und kraftlosen Brief hätte schreiben wollen. – Nein! Das nicht! – Lieber noch einige Tage mit dem Schreiben warten. – Und so kam es: Gestern habe ich die letzten Garben heimgebracht, vorgestern das letzte Oemd, und ich möchte jetzt nur wünschen, dass mein Aufstieg zu der vor einem Vierteljahr innegehabten Höhe sich schneller vollziehen möge als der endlose Abstieg. – Ach freilich: Alle besseren Menschen sind Protestler; sind Protestler von jeher gewesen, und nur die Gemeinheit, oder eigentlich mehr der Unverstand, findet im Publikum, in der verdammten Mittelmäßigkeit so ausgiebig weiten Boden. – Bei meiner Göttlichkeit:
Sie sind besser als ich! Ich habe schon längst verzichtet, Dummköpfe vernünftig und Werktagsmenschen ideal denkend zu machen. – Freilich: Da haben Sie Recht, es bedürfte oft nur eine Belehrung, um diese Leute anders denken zu machen. – Aber das sind die Schlimmsten, die es verstehen, eine vornehme Miene anzunehmen. Es sind die, die man so in besonders renommierten Kaffeehäusern namentlich in Stuttgart, trifft. Hohl der Schädel, aber eingebildet, furchtbar eingebildet auf was? – Ich weiß es nicht. – Vielleicht auf den schön dressierten Schnurrbart, die glänzenden Stiefel, den modernen Anzug, die einen rein menschlichen Ausbruch von Entrüstung über irgendeinen sozialen Missstand mit vornehm überlegender Miene abzutun versuchen. Und was sind dies meist für unbedeutende, geistlose Leute!
Aber ich will mich nicht länger ärgern. – Es ist eigentlich die gleiche Geschichte: Stadt und Land, Dörfer und Städter, nur dass bei jenen das Muckertum die Sache noch widriger macht. – Doch zu fürchten sind sie eigentlich nicht. Es sind feige Leute. –
Dass Sie Märtyrer einer guten Sache geworden sind, hebt Sie in meinen Augen hoch, und ich werde nicht versäumen. Ihnen wieder, wieder und wieder zu schreiben. Bleiben sie nur getrost und ruhig, denn: Es ist auch ein gewisses Märtyrertum, das ich in meiner Heimat hier auszuhalten habe. – Nur aufrecht bleiben! Stolz bleiben bis aufs Äußerste! Stolz wie ein Gott! – Aber nicht ein Übermensch nach Nietzsche! Nicht ein Gewaltmensch wie Alexander, Cäsar, Napoleon I., – die Eroberung der Welt, d.h. der Menschheit, muss auf friedlichem Wege zustande kommen, trotz aller Dummköpfe und Mucker, so etwa im Sinne Buddhas durch Belehrung und Liebe, doch ohne dessen Askese.
Keine Askese! Das ists, was ich am Kirchenturm so unversöhnlich hasse! Vielleicht deshalb, weil ich meinem armseligen Nest hinten und vorn Askese ist. – Aus lauter Frömmigkeit. […]
Mit herzlichen Grüßen Ihr treuer
Christian Wagner, Verfasser des „Neuen Glaubens“
Leider scheint dies der einzige Brief Wagners an Landauer in die Haftanstalt zu sein, der überliefert ist. Es müssen mehrere gewesen sein. So schreibt er am 20. November 1899 an Siegfried Landauer: „Christian Wagner hast Du scheint’s noch nicht besucht. Er erfüllt getreulich seinen Vorsatz, Gefangene zu trösten, und schreibt mir öfters. In seinem letzten Brief erwähnt er, dass er in letzter Zeit öfters von Ohnmachtsanfällen und Bangigkeitsbeschwerden heimgesucht worden ist; vielleicht ist Dir das Veranlassung, einmal zu dem lieben alten Mann hinauszustiefeln.“
Außerdem bedankt sich Landauer am 12. März 1900 nach seiner Entlassung bei Wagner „für Ihre lieben Briefe“ – also in der Mehrzahl.
Zugleich teilt er diesem mit: „Ich habe alles gut überstanden.“ – eine typische Übertreibung Landauers, wenn man die Umstände der Haft betrachtet. Am Tag vor Antritt der Strafe hat er Hedwig Lachmann geschrieben: „Ich habe gestern dem Direktor, der sehr charmant war, einen Besuch gemacht. Literarische Beschäftigung und sonst allerlei Erfreuliches in Bezug auf den äußeren Habitus ist bewilligt.“ Tatsächlich schreibt er in der Haftzeit seine Novelle „Lebendig tot“ und hilft Mauthner bei seinen „Beiträgen zu einer Kritik der Sprache“ – den er am 27. Dezember 1899 um 100 Zigarren bittet, da ihm seine ausgegangen seien.
Im Juli 1900 reist Gustav Landauer erneut mit seinem Vetter Hugo nach Süddeutschland – und wieder macht er bei Christian Wagner halt. Am 30. Juli erstattet er Hedwig Lachmann ausführlich Bericht:
Sehr liebe Hedwig,
„Die Stunden, die ich wieder mit Wagner zubrachte, waren fast ebenso überwältigend wie im vorigen Jahre. Ich fand ihn auch körperlich rüstig und frisch. Das Visionäre an dem Mann, sein Selbstgefühl, seine Sprachmacht, seine Feinheit und schlichte Würde sind ganz wundervoll. Und sein häufiges Wiederholen eines und desselben scheint mir nicht Schwäche, sondern ein Ringen um den Ausdruck und ein Überwältigtsein seines gewöhnlichen Menschen von dem Ungemeinen in ihm. Es war ergreifend – und hat auch so und zwar überaus stark auf meinen Vetter gewirkt –, wie der alte Mann in seiner Bauernstube saß und mit einem großartigen Glanz in den Augen immer wiederholte: Götter müssen wir werden … Götter müssen wir werden! Und wie er dann fast ängstlich mich immer wieder fragte: Nicht wahr, Herr Landauer, der Pessimismus muss doch überwunden werden, er muss überwunden werden? Einige seiner neueren Gedichte, die er mir vorlas, kommen denen aus seiner allerbesten Zeit gleich. Unser Eindruck im vorigen Jahr, dass wir dem Mann nichts sein konnten, war falsch. Er hat eine Gier danach, mit denen, die aus der Welt kommen, zu reden und sich bestätigen zu lassen, dass er nicht ganz vereinsamt ist, dass die Besten mit ihm sind. Er hatte eine große Freude, mich wiederzusehen. (…) Und die Tochter – sie ist noch schöner geworden, als sie im vorigen Jahre war.“
In dem Brief schimmert ganz deutlich Landauers Überheblichkeit durch. Etwa, indem er Wagner „kleinmacht“ und sich „erhöht“: Wagner habe eine Gier danach, „mit denen, die aus der Welt kommen, zu reden und sich bestätigen zu lassen, dass er nicht ganz vereinsamt ist, dass die besten mit ihm sind“. Oder: Wagner bilde seine Gedanken und Stimmungen unermüdlich redend, „und er wird ängstlich, wenn man still sinnend seinen Worten lauscht“. Allerdings merkt Landauer selbstironisch an, Wagner kenne „nicht unsere Verschlossenheit, unser Reden in Hingeworfenem und nur Angedeutetem, unser Eindämmen des Leidenschaftlichen“. Und Landauer lässt Unsicherheit durchscheinen, wenn er eingesteht: „Unser Eindruck im vorigen Jahr, dass wir dem Mann nichts sein konnten, war falsch.“
Beide ausführlichen Briefe, der von Wagner an Landauer und der von Landauer an Hedwig, erlauben einen detaillierten Einblick in die Gedankenwelt der Dichter und geben ein wenig Aufschluss darüber, was sie vom jeweils anderen gehalten und erwartet haben.
Wagner nimmt in seinem Brief vom August 1899 an den inhaftiertenLandauer Bezug auf dessen Goethe-Ausgabe, vor allem auf dessen Begleittext, und arbeitet Schritt für Schritt die Passagen ab. Er geht mit einigen Argumenten Landauers mit, widerspricht aber auch. Landauers Text strotzt nur so von Bitterkeit. Er ist enttäuscht von den Menschen, die sich mit ihrer Lage abfinden, die seine Vorstellungen einer künftigen Welt nicht verstehen oder diesen nicht folgen wollen. „Wohl arbeitet ihr hart und schwer, um zu leben. Aber warum lebt ihr? Lasst Euch nicht aussperren von den Palästen des Lebens und der Größe!“, schreibt er und hadert mit den „Kleinlichen“ und „Alltäglichen“, die es erdulden, als überflüssig behandelt zu werden. Ihnen wirft er vor: „Ihr seid mir nicht verliebt genug in die Herrlichkeiten, die euch fehlen.“ Und er schließt an: „Ihr ward eine große, unerhörte Hoffnung: die Bedürfnisse der Unterdrückten und die Erfordernisse echter Kultur sollten in Eines zerschmelzen: Freiheit des Einzelnen und Zusammenschluss in Vernünftigkeit.“
Wagner hält dagegen. Er nimmt jene in Schutz, die hart arbeiten müssen, er hat Verständnis für den „Unverstand“ vieler Menschen zu protestieren und lieber in „der vertrauten Mittelmäßigkeit“ zu verharren, und er lehnt Gewalt ab: „Die Eroberung der Welt, d.h. der Menschheit, muss auf friedlichem Wege zu Stande kommen, trotz aller Dummköpfe und Mucker […].“
Wagner signalisiert aber auch Zustimmung: bei der Kritik an äußerer Not und innerer Geducktheit des Einzelnen sowie an den sozialen Missständen. Und an der Haltung, sich gegenüber staatlichen und religiösen Autoritäten zu behaupten. Und beide, Wagner wie Landauer, eint eine gewisse Resignation, was die Wirkung des eigenen Tuns betrifft.
Wagners eindrückliche Warnung des Anarchisten Landauer vor einem Weg der Gewalt laufen ins Leere. Denn Landauer lehnt den terroristischen Anarchismus ab. Außerdem: Wagner bezieht seine Äußerungen häufig auf die Erfahrungen in seinem unmittelbaren privaten Umfeld. Landauer dagegen hat die anarchosozialistische Bewegung, das politisches Milieu, im Blick. Auch blendet er, wie Linse kritisch anmerkt, große Teile der Botschaft Wagners aus: etwa die Ansichten zur Lebensreform, zu Naturschutz und Vegetarismus. Das ist jedoch verständlich, denn ist üblich, dass sich jemand, der auf der Suche nach Anregung und Bestätigung ist, sich vom dem angesprochen fühlt, was dieser Suche eher entspricht.
Wenn man von Anarchismus bei Landauer spricht, so ist damit der gewaltfreie Kampf gegen gesellschaftliche Umstände gemeint. Gewalt ist ihm zuwider, dazu zählt er auch die Diktatur des Proletariats. Landauer geht es um die Abschaffung des Parteiwesens und des Parlamentarismus, um Selbstorganisation und die Entwicklung jedes Individuums nach seinen Fähigkeiten – unabhängig von äußeren Zwängen wie Kapital, Herkunft und politischer, kirchlicher oder sonstiger gesellschaftlicher Einflussnahme. Ihm schwebte eine Vereinigung der Individuen auf freiwilliger Basis in kleinen Gemeinschaften vor, die sich irgendwann mit weiteren Gemeinschaften dieser Art verbinden. Dies wird als sozialer Anarchismus beschrieben.
Was ist es nun, was Wagner dem jüngeren Landauer geben kann? Sicherlich sind seine Gedichte mehr als nur ein Weg für Landauer, Nähe zu der neuen Geliebten herzustellen, in der Begeisterung für Wagners Lyrik etwas Gemeinsames zu finden. Der Kontakt zu Wagner ist auch mehr als nur ein Trost in emotional schwieriger Zeit, auch Wagner durch den Tod einiger Kinder und seiner ersten Frau Verlust erfahren – und weiß zudem, was schwierige materielle Verhältnisse sind.
Zum einen dürfte Landauer die Sprachgewalt, die bildreiche Sprache Wagners angeregt haben, beschäftigt sich Landauer doch 1899/1900 intensiv mit den Überlegungen seines Freundes Fritz Mauthners zu einem neuen Sprechen. Auch macht er sich dessen Gedanken zu Eigen. So stellt Landauer in dem Werk „Skepsis und Mystik“ (1903) seiner Kritik am Pessimismus, eine neue Heiterkeit der Utopie entgegen. Hat Wagner nicht Landauer bei dessen Besuch gefragt: „Nicht wahr, Herr Landauer, der Pessimismus muss doch überwunden werden.“?
Bis zur Zeit des Kennenlernens steht Landauer Religionen, vor allem der monotheistischen, ablehnend gegenüber, mit Offenbarungen kann er wenig anfangen. Einzig der Buddhismus regt ihn an – hier mag er bei Wagner Inspiration gefunden haben.
Vor allem aber sieht Landauer in der Person Wagners den Außenseiter und Propheten, das moderne Künstlerideal schlechthin. Ein Ideal, dass er 1900 in seinem berühmten Vortrag „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ ausführt. Landauer bezeichnet sich darin als Vorhut. Groß sei der Abstand, „der uns, die wir uns selbst als eine Vorhut fühlen, von den übrigen Menschen trennt“. Es gehe nicht darum, so lange zu warten, bis diese aufschließen. „Wir können und wollen nicht mehr warten.“ Die Vorhut sei zu weit voran, „als dass unsere Stimme von den Massen noch verstanden werden könnte“. Vielmehr sollte sich die Vorhut „von den alten Gemeinschaften absondern“ fordert Landauer eine bewusste Entscheidung zur Bewusstseinsfindung. Und wer dies schaffe, zum „innersten Kern unseren verborgensten Wesen“ zu kommen, der sei für alle Zeit bereichert und beseelt „und endgültig abgerückt von den gemeinen Zufallsgemeinschaften der Mitwelt“. Landauer lobt die Tatmenschen, die alles daransetzen würden, ihren Weg zu finden, denen „all diese ernsten Dinge Lebensfragen geworden sind“. Vorreiter, Außenseiter, neuer Glauben, Abstand von der Mitwelt – alles das, was man bei Wagner findet.
Nach der intensiven Phase mit Besuchen, einigen Briefen und dem Abdruck von Gedichten und einer Charakterisierung Wagners im „Sozialist“ wird nach 1900 die Beziehung loser. Die Beschäftigung mit Wagner beschränkt sich in dieser Zeit vor allem auf das Werben für den Künstler durch den Abdruck von Wagners Texten oder den Vertrieb seines Werkes „Neuer Glaube“ und auf Glückwunschschreiben zum 70., 75. und 80. Geburtstag.
In seinem Brief vom 5. August 1915 lobt Landauer zum Beispiel Wagner, der so manche „Verse von unvergesslicher Festigkeit und Eindringlichkeit in deutscher Sprache der Menschheit geschenkt hat, der Mann, der in seltener Schönheit Pathos und Natur, Einfachheit und Größe, farbige Phantasie und seelenvolle Wärme, Menschenliebe und Liebe zum Lebendigen zugleich mit der klaren Festigkeit im Denken und Wollen vereint.“
Ansonsten ist in dieser Zeit Albert Weidner (1871–1946) aktiver als Landauer im Kontakt zu Wagner. Weidner, in Berlin geboren und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, lernt den Beruf des Schriftsetzers und bekennt sich etwa 1891 politisch zu den „Unabhängigen Sozialisten“. Er schließt sich anarchistischen Kreisen an, arbeitet dort als Herausgeber von Zeitungen und als Journalist und gerät seit 1895/96 deshalb unter strenge Polizeikontrolle. Erst 1913 wird er aus der „Anarchistenliste“ der Berliner Polizei wieder gestrichen, da hat er sich schon längst aus der Szene verabschiedet.
Drei Beispiele der Verbundenheit mit Christian Wagner aus der Zeit bis dahin möchte ich hervorheben.
Erstens: Am 8. Oktober 1904 veröffentlicht Weidner in der von ihm in Friedrichshagen herausgegebenen Zeitung „Der arme Teufel“ einen der seltenen Prosatexte Wagners unter dem Titel „Über Knechtsinn und Bedientenhaftigkeit“. Weidner hatte ihn dazu ermuntert und legt einer Beleg-Zeitschrift seine Visitenkarte bei mit der Notiz:
„Hochgeehrter Herr Wagner, erlauben Sie, dass ich Ihnen beiliegendes Blättchen regelmäßig zusende. Gefällt es Ihnen, und hätten Sie ein wenig Zeit übrig, so würden Sie uns durch gelegentliche Beiträge die nur – des Raumes wegen – nicht sehr groß sein dürfen, außerordentlich erfreuen. Das Blättchen ist mehr ein intimes Gemeinschafts- als öffentliches Organ.
Der Essay Wagners verdient etwas Aufmerksamkeit. Er wurde und wird vor allem als Dichter wahrgenommen, er selbst hat 1914 geäußert, dass Novellen und Romane nicht seine Sache seien. Gleichwohl hat er die ihm sichere Welt der Verse verlassen und Alltagsschriften verfasst, wenn er sein Motto, „alles Lebendige zu schonen“, missbraucht gesehen hat, wie Axel Kuhn in seinem Vorwort zur gleichnamigen Essay-Sammlung betont. In dem Text geht es um Ungerechtigkeit und Rücksichtslosigkeit, die Ursache für schlechte Zustände seien. Dass sich diese alltagspolitischen Schriften seit dem Jahr 1902 häufen, begründet Kuhn mit persönlichen Umständen und neuen Verbündeten aus dem Tier- und Naturschutz. Doch lässt sich der Einfluss Landauers, ein vehementer Kritiker der gesellschaftlichen Umstände, nicht ganz verleugnen.
Zweitens: Im August 1905 erhält Christian Wagner Post von den Anarchisten aus Friedrichshagen zu seinem 70. Geburtstag. Während Landauer lediglich ein Telegramm mit einem knappen Glückwunsch schickt, nimmt sich Weidner Zeit für einen ausführlicheren Brief. Er zeugt von der Wertschätzung Wagners – und vom Bedauern Weidners, dass es mit einem geplanten Besuch in Warmbronn nicht geklappt hat:
„Es ist mir leider nicht möglich gewesen, bei meinem Aufenthalt in Stuttgart Ihr stilles Schwarzwald-Dörfchen aufzusuchen und beim gastlich gespendeten Wein eine Stunde mit Ihnen und Ihrer freundlichen Tochter zu verplaudern. Ich musste diesen Besuch aufgeben, weil sich ein Ruf nach Zürich dazwischenschob. Doch wenn ich – was ich hoffe – im Herbst wiederkomme, werde ich es mir nicht entgehen lassen, einen Händedruck von Ihnen mitzunehmen.“ (…)
„Ich würde Ihnen für die weitere Anzahl Jahre, die Ihnen noch vergönnt sein werden, ein Leben in ruhiger Heiterkeit wünschen, wenn ich nicht wüsste, dass Sie die Gewähr dafür längst in sich tragen: die Abgeklärtheit harmonischer Natur- und Lebenserkenntnis.“
Drittens: Zum 75. Geburtstag Wagners erscheint ein Gedicht Hedwig Lachmanns über den Dichter, das mit den Versen beginnt: „Die Erde gab ihm ihre reinen Früchte/Aus freier Hand, Auf offener Flur/Gedieh er wetterhart und bot die Stirne/Den Stürmen und dem Frieden der Natur“. Christian Wagner reagiert ein wenig spöttisch auf die Zuneigung, sein einziger Reichtum seien die dichterischen Phantasien eines „Troubadours“ – Damen gegenüber, nicht die materiellen Erntesegen.
Ansonsten schildert er seinen Alltag als beschwerlich:
„,Abwärts gleitet das Jahr‘ könnte man gegenwärtig sagen, wenn es je von einer Sommerhöhe niedergleiten könnte! Aber, so weiß ich keine Sommer. Die Früchte verfaulen auf dem Felde. Es ist trostlos. Auch mein Befinden leidet schwer darunter. Der heurige Sommer hat mehr von mir abgebröckelt als es in gewöhnlicher Zeit im vollen Jahrzehnt hätte tun können. Das Beste ist, dass die Meinigen, Kinder und Enkel, gesund sind.“
Am Ende informiert er Landauer, dass im Jahr zuvor wieder ein Büchlein von ihm herausgekommen sei, es heiße „Späte Garben“. Auch berichtet er, dass ihn immer wieder Gäste in dem sonst so stillen Warmbronn besuche. Dies verknüpft er mit einer Ermunterung: „Ich würde mich sehr, sehr freuen, wenn Sie und Ihre liebe Frau mich hier einmal besuchen wollten.“
Gustav Landauer stellt in seiner Antwort vom 26. September 1910 einen Besuch in Aussicht:
„Die nächste Gelegenheit, die uns in Ihre Nähe führt – vielleicht im nächsten Sommer, der dann hoffentlich ein wirklicher Sommer sein wird – wollen wir benutzen, um Sie zu besuchen.“ Ob es dazu gekommen ist, ist nicht überliefert.
Wagner revanchiert sich im November bei Hedwig Lachmann und schickt Landauer auf dessen Bitte hin für die Weihnachtsausgabe der wieder aufgelegten Zeitung „Sozialist“ neue Texte, die Sonette „Panoramaweg“ und „Kinderfest“, die er Landauers Frau widmet. Das Heft ist erneut ein Themenheft – dieses Mal für den gerade verstorbenen Leo Tolstoi. Dass Wagner dort auftaucht passt – denn Julius Hart hatte Wagner 1899 in seinem Porträt als „deutschen Tolstoi“ gelobt.
Gustav Landauer wird den Bezug zum dem damals verehrten russischen Schriftsteller 1919 noch einmal verwenden: in den von ihm herausgegebenen Gesammelten Gedichten Hedwig Lachmanns, wo er ihren Versen über Wagner unmittelbar das Gedicht „Tolstoi“ folgen lässt.
Gustav Landauer wird am 2. Mai 1919 nach der gewaltsamen Niederschlagung der Münchener Räterepublik, in der er Beauftragter für Volksaufklärung war, von Freikorps-Soldaten ermordet. Einen seiner letzten Kontakte hat Landauer in München zum Chef des Universitätsbauamtes Theodor Kollmann, Großvater des langjährigen Vorsitzenden der Wagner-Gesellschaft, Karl Kollmann. Theodor Kollmann bietet aus „staatsbürgerlicher Pflicht“ der Stadtkommandantur und der Polizei seine Hilfe dafür an, Mitglieder des „revolutionären Hochschulrates“ festzusetzen, die sich der Verantwortung zu entziehen und die mit Schlüsseln und Dokumenten zu fliehen drohen. Kollmann geht davon aus, dass alle belangt werden müssen, die die demokratisch gewählte bayerische Regierung des Sozialdemokraten Johannes Hoffmann im Handstreich abgesetzt haben. Gustav Landauer, zufällig anwesend, habe sein Ansinnen befürwortet, gibt Theodor Kollmann am 2. Mai 1919 zu Protokoll (das mir Karl Kollmann freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat) – dem Tag von Landauers Ermordung.
Auf den ersten Blick scheint die Beschäftigung der Friedrichshagener mit Wagner sich so gestaltet zu haben wie bei anderen Personen, die ihre Aufmerksamkeit geweckt haben: zunächst großes Interesse, das merklich nachlässt. Ohne gänzlich zu erlöschen. Wenige Spuren des Austauschs, am ehesten noch gegenseitige Wertschätzung und die Genugtuung, einen Gleichgesinnten zu kennen – im Fall von Wagner und Landauer sind das die Themen Antimilitarismus und die Sorge um die künftige Gesellschaft. Wagner wiederum hat Landauers Briefe und Besuche – im Gegensatz zu Bruno Willes Besuch in Warmbronn 1901 – nie erwähnt, weder in seinen Tagebüchern noch in den Lebenserinnerungen. Doch was heißt das? Dass wir nicht von einem Austausch sprechen können? Dass Wagner die Begegnung nicht wichtig war, er bekam schließlich damals häufig Besuch, wie er 1910 auch an Landauer schreibt? Vielleicht hatten sich beide tatsächlich nicht viel zu sagen. Es bleiben also Fragen offen, über die sich trefflich diskutieren lässt.
Ganz sicher hat es eine gegenseitige Wertschätzung gegeben, die bei Landauer tiefer gegangen sein mag. Für ihn war der Kontakt Stütze in seiner Lebens- und Schaffenskrise um 1900 und die Beschäftigung mit Leben und Ansichten Christian Wagners ein Baustein bei seiner Neuorientierung. Für Wagner dürfte das Interesse Landauers Genugtuung, Bestätigung und wichtiger Kontakt zur Literaturszene gewesen sein.