50 Jahre CWG – Die Anfänge der Christian-Wagner-Gesellschaft e.V.

Texte von Axel Kuhn

(im Warmbronner Mitteilungsblatt über das Jahr 2022 publiziert)

 

(1) Die Gründungsversammlung

Am 5. Februar 1972 trafen sich 17 Personen in der Waldgaststätte Warmbronn, um eine Christian-Wagner-Gesellschaft zu gründen. Zuvor hatte ein Freundeskreis am 15. Januar ebenfalls in der Waldgaststätte einen öffentlichen Christian-Wagner-Abend mit dem Redner Otto Heuschele veranstaltet. Als Ziel war damals „das Zusammenfinden der Freunde Christian Wagners in seinem Heimatdorf“ angegeben worden. Die Neuzugezogenen sollten Gelegenheit bekommen, „Näheres über den großen Sohn ihrer neuen Heimat zu hören“. Warmbronn hatte nämlich in den 1960er Jahren einen Bauboom erlebt. Während im Dorf nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder etwa genau soviel Einwohner lebten, wie zu Wagners Geburt (nämlich 660), war die Zahl der Einwohner 1972 auf 3400 gestiegen. Ermutigt durch den erfolgreichen Verlauf des Heuschele-Abends erarbeiteten Vinzenz John und Eisenhart von Loeper einen Satzungsentwurf und luden zur Gründungsversammlung ein. In der Einladung heißt es, man habe die Absicht, „eine Vereinigung der Freunde Christian Wagners ins Leben zu rufen, deren erste Aufgabe in einer Neuverlegung der Werke des Dichters bestehen soll.“ Die Schriften Christian Wagners waren nämlich seit langem vergriffen.

Auf der Gründungsversammlung wurde die Satzung verabschiedet und ein erster Vorstand gewählt. In der Satzung wird als Zweck der CWG 1. die „Förderung der Kenntnis von Leben und Werk des Dichters Christian Wagner, die Neuherausgabe und Verbreitung seiner Schriften“ sowie 2. die „Gestaltung von offenen Vortrags- und Ausspracheabenden über kulturell interessierende Fragen, namentlich über Probleme der Schonung und Entfaltung des Lebendigen“ bezeichnet. Die Erhaltung des Dichterhauses stand bei der Gründung der CWG also nicht im Mittelpunkt. Gewählt wurden: 1. Vorsitzender: Eisenhart von Loeper; 2. Vorsitzender: Vinzenz John; weitere Vorstandsmitglieder: Friedrich Aichinger, Ulrich Keicher, Gustav Kraut und Bruno Wagner (ein Enkel CWs). Die anderen Gründungsmitglieder waren die CW-Enkel Erich Wagner (Backnang), Oswald Kühnle (Heimerdingen), CWs Urenkel Gerold Kühnle (Sulzbach) sowie in alphabethischer Reihenfolge Hedwig Aichinger (Warmbronn), Willy Birkert (Warmbronn), Paul Huppenbauer (Leonberg), Dr. Philipp (Warmbronn), Ernst Rattke (Leonberg), Heinz C. Rudolph (Warmbronn), M. Rudolph (Warmbronn) und Erwin Scheuerle (Warmbronn).

 

(2) Die Wiederentdeckung Christian Wagners

Als am 5. Februar 1972 siebzehn Personen in der Waldgaststätte die Christian-Wagner-Gesellschaft gründeten, waren der Warmbronner Dichter und sein Werk nahezu in Vergessenheit geraten, beziehungsweise den zahlreichen Neubürgern der Gemeinde noch unbekannt. Wohl hatte Warmbronn im Jahr 1950 zum 115. Geburtstag ihres Ehrenbürgers eine Christian-Wagner-Gedenkfeier im Gasthaus Zur Traube veranstaltet. Doch lange Jahre vergingen, bis es 1968, zu seinem 50. Todestag, eine weitere Warmbronner Wagner-Feier gab. Nur in wenigen Zeitungsartikeln wurde seit 1945, zumeist zum Geburts- oder Todestag Wagners, an sein Leben und Werk erinnert. Als Redner und Verfasser zeichneten damals vor allem August Lämmle und Otto Heuschele ein Bild des Dichters, das nicht mehr so ganz in die 1960er Jahre passte. Zwar setzte sich der in Leonberg lebende Bruno Wagner, ein Enkel des Dichters, unermüdlich für das Werk seines Großvaters ein, zwar hielt Willy Birkert aus Warmbronn Christian Wagners Andenken unter den Naturfreunden wach; aber die beiden blieben doch lange Jahre lang Einzelkämpfer. 1968 lehnte der Warmbronner Gemeinderat Birkerts Antrag ab, die „Waldschule“ Warmbronn in „Christian-Wagner-Schule“ umzubenennen. Schon 1962, bei der Einweihung der Schule, hatte diese Anregung keine Mehrheit gefunden. Vor allem aber war es für die Kenntnis von Christian Wagners Werk nachteilig, dass man seine Bücher nicht mehr kaufen konnte. Die letzte Ausgabe seiner Dichtungen war 1927/28 erschienen und natürlich längst vergriffen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich die Gründungsmitglieder der Christian-Wagner-Gesellschaft als erste Aufgabe die „Neuverlegung der Werke des Dichters“ vornahmen. Die Verwirklichung dieser Aufgabe sollte zu einer Wiederentdeckung Christian Wagners beitragen.

 

(3) Christian Wagners Werk wird neu bewertet

Als nächstes Datum nach dem 5. Februar 1972, der Gründung der Christian-Wagner-Gesellschaft, steht der 14. April 1972 zu Buche. An diesem Tag fand im Gasthaus „Grüner Baum“ die erste Mitgliederversammlung statt. Anwesend waren 15 Personen, die entweder schon Mitglieder waren oder die es durch ihre Unterschrift neu wurden, wie Karl Kollmann, der spätere langjährige Vorsitzende. Im Mittelpunkt der Versammlung stand ein Vortrag von Ulrich Keicher über „Christian Wagner in der literarischen Welt“. Der damals 29-jährige Keicher zeichnete darin ein neues Bild des Warmbronner Dichters, indem er Wagners zahlreiche Kontakte zu Zeitgenossen sowie die Würdigungen zur Sprache brachte, die der Dichter nach seinem Tod erfuhr. Aus dem bisherigen Bauernpoeten, dessen Dichtung angeblich ein „Bekenntnis zur Heimatscholle“ gewesen sei, erstand vor den Ohren der Anwesenden einer der „größten deutschen Lyriker“ des 19. Jahrhunderts. So hieß es im Versammlungsbericht der Leonberger Kreiszeitung.

In einer Aussprache über die Herausgabe von Christian Wagners literarischem Werk war man der Meinung, dass es für eine Gesamtausgabe noch zu früh sei. Stattdessen sollte „wenigstens ein kleines Gedichtbändchen zusammengestellt“ werden. Diese Aufgabe wurde Ulrich Keicher übertragen. Statt des ursprünglich geplanten kleinen Bändchens bereitete Keicher einen stattlichen Band mit Zeichnungen von Gunther Böhmer und einem Vorwort von Albrecht Goes vor, was das „Unternehmen“ nicht nur verteuerte, sondern auch den Erscheinungstermin bis November 1973 verzögerte. Keicher griff bei seiner Gedichtauswahl zum ersten Mal wieder auf die Handschriften Christian Wagners zurück, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach verwahrt werden. Hermann Hesse hatte in seiner Auswahl von Wagner-Gedichten 1913 die Originalfassungen nach Gutdünken vielfach verändert. Und Wilhelm Rutz brachte 1927/28 bei seinem Versuch, die drei Teile der „Sonntagsgänge“ zu einem Band zusammenzufassen, Wagners Werk völlig durcheinander. Keichers neue Gedichtausgabe wurde deshalb zur Grundlage einer neuen, quellenkritisch gesicherten Beschäftigung mit dem Werk des Dichters.

 

(4) Wo „aus Dorn und Schilf das Elend brach hervor“

Die Christian-Wagner-Gesellschaft hatte sich bei ihrer Gründung am 5. Februar 1972 als Hauptziel die „Neuherausgabe und Verbreitung“ von Christian Wagners Schriften vorgenommen. Doch wie sollen die Texte des Warmbronner Dichters veröffentlicht werden? Schon zu seinen Lebzeiten gab es eine erste Rechtschreibreform, und zwar 1901. Ihr ist vor allem das h hinter dem T zum Opfer gefallen. (Nur am Thron durfte auf Weisung Kaiser Wilhelms nicht gerüttelt werden.) Christian Wagner hat diese Reform jedoch nicht übernommen und an seiner „Heimath“ ebenfalls nicht gerüttelt. Aber die Setzer und Verleger seiner Bücher passten Wagners Manuskripte stillschweigend der damals neuen Rechtschreibreform an. Seine Handschriften haben also nicht denselben Wortlaut wie seine Veröffentlichungen. Muthig ist es also, wann man jetzund seine Mährchen handschriftsgethreu wieder herausgiebt, und dieß aus Werthschätzung für das Vermächtniß des todten Dichters thut.

Eine andere Option war es, Wagners Werke in Faksimile zu veröffentlichen. Das heißt aber: in der alten, damals üblichen Frakturschrift. Da musste man nun manches Wort zwei Mal lesen und wusste nicht genau, ob einem dabei die Luft oder die Lust ausging. Selbst ein Antiquar, der ja eigentlich auf alte Schriften spezialisiert sein sollte, bietet den II. Teil der „Sonntagsgänge“ Wagners mit dem Untertitel „Heitere Märchen und Balladen“ an. „Heitere“ Märchen hat Wagner nie geschrieben – wohl aber „Weitere“ Märchen.

So war es eine richtige Entscheidung, die Neuausgaben von Wagners Schriften der heute gültigen Rechtschreibung anzupassen: Denn die Lesefreundlichkeit seiner Texte ist die erste Voraussetzung dafür, dass seine Schriften verbreitet werden. Das hat Ulrich Keicher in der Wagner-Gedichtausgabe von 1973 getan. Und seinem Beispiel ist die CWG gefolgt, als sie begann, Wagners Werke in Einzelausgaben neu herauszubringen. Doch niemand ist vor Fehlern gefeit. So heißt es in einer unserer Neuausgaben: Wo „aus Dorn und Schilf das Elend brach hervor“. Von Wagner gemeint war natürlich das „Elen“, also der Elch. Das geht auf unsere Kappe. Helau!

 

(5) 1968/1972: Ein frischer Wind verändert auch die Beschäftigung mit Christian-Wagners Werk

Ende der 1960er- /Anfang der 1970er-Jahre wehte nach der Konrad Adenauer-Ära und dem Ludwig- Erhard-Zwischenspiel ein frischer Wind durch die Bundesrepublik Deutschland. Manche Stichworte dieses Aufbruchs sind unvergesslich: deutsche Bildungskatastrophe, Studentenbewegung, sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, Anerkennung der DDR. Die Gründung der Christian-Wagner-Gesellschaft am 5. Februar 1972 war in diesen allgemeinen Neubeginn eingebettet. Die schöngeistige Betrachtung von Literatur, für die in Sachen Christian Wagner Otto Heuschele und August Lämmle maßgeblich gewesen waren, verlor allgemein an Bedeutung. An den Universitäten gab es einen, wie man sagte, Paradigmenwechsel von der geistesgeschichtlichen Interpretation eines Gesamtwerks zur Formanalyse einzelner Gedichte, Dramen oder Romane. Die Frage nach der poetischen Verfahrensweise, nach der Entstehung eines Gedichts wurde nun gestellt. „Wie ist das Gedicht gebaut?“, lautete jetzt die Leitfrage, oft noch zum Leidwesen der Studierenden, die lieber über das Leben des Autors referieren wollten, und das „lyrische Ich“ im Gedicht mit dem Autor verwechselten. 1968, im Jahr von Christian Wagners 50. Todestag, hatte Werner Dürsson in der Stuttgarter Zeitung den ersten „modernen“ Christian-Wagner-Text veröffentlicht. Der 36jährige Dürsson, selbst Schriftsteller, wies darauf hin, dass der Warmbronner Dichter „ein starkes Gespür für eigene Wortbildungen“ besitze, „deren Untersuchung sich lohnen könnte“. Wagner sei ein vorzüglicher „Reimer“, heißt es weiter, er bringe „neben viel Alliterationen und Assonanzen“ schon „Reimkombinationen“, an denen „sich später Rilke gütlich tat“. Und aus der Beobachtung der „Formalien“ im Gedicht konnte man zu derselben Ansicht gelangen, die Ulrich Keicher bei seinem Aufsehen erregenden Vortrag „Christian Wagner in der literarischen Welt“ am 14. April 1972 in der Mitgliederversammlung der CWG durchblicken ließ: Christian Wagner gehört zu den größten deutschen Lyrikern des 19. Jahrhunderts.

 

(6) Das Christian-Wagner-Haus stand 1972 vor dem Abbruch

Die Erhaltung von Christian Wagners Geburts- und Wohnhaus war nicht ausschlaggebend für die Gründung der Christian-Wagner-Gesellschaft im Februar 1972. Das Haus war baufällig und unbewohnbar. Seit etwa 1970 waren in der Presse Artikel erschienen, die den Abbruch des Hauses voraussagten. So titelte die Stuttgarter Zeitung am 20. Mai 1970: „Christian-Wagner-Haus in Warmbronn wird abgerissen – Reparatur unmöglich, Erhaltung des kleinen Museums unwahrscheinlich.“ Selbst im Kreis der Gründungsmitglieder hatte man eine Erhaltung des Hauses anscheinend schon aufgegeben. So schrieb das spätere Vorstandsmitglied Gustav Kraut am 4. Januar 1972 in einem langen Christian-Wagner-Aufsatz in der Leonberger Kreiszeitung: „Das Haus, in dem Christian Wagner bis zu seinem Lebensende gewohnt und gearbeitet hat, in dem er seine schönsten Gedichte schrieb, ist dem völligen Verfall nahe und so, wie die Dinge heute liegen, kaum noch zu retten. Ist aber die Erhaltung des geistigen Erbes Christian Wagners, seiner Gedichte und Prosaschriften, nicht eine ungleich viel höhere, wichtigere Aufgabe?“ Folgerichtig wurde die Erhaltung des Hauses auch nicht in der ersten Satzung der CWG erwähnt. Auf der ersten Mitgliederversammlung der CWG am 14. April 1972 sahen selbst die Enkel des Warmbronner Dichters, Bruno Wagner und Oswald Kühnle, „den Abbruch des Geburtshauses als unabwendbar an“. Man hoffte lediglich, in einem etwaigen Neubau auf diesem Grundstück die Wagner-Stuben wieder einrichten zu können.
Erst nachdem das Hauptziel, das sich die CWG bei ihrer Gründung gesetzt hatte, nämlich die Veröffentlichung eines Christian-Wagner-Gedichtbandes, vor der Verwirklichung stand, richteten sich die Blicke von Vorstand und Mitgliedern auf die Erhaltung des Christian-Wagner-Hauses. Eine Kehrtwende vermeldeten die Zeitungen übereinstimmend Anfang August 1973: Nach Untersuchungen des Kreisbauamts war das Haus nicht baufällig, es bestand keine Einsturzgefahr. Es müsste nicht abgerissen, es könnte auch renoviert werden, hieß es. Dieser überraschende Befund löste in der CWG neue Überlegungen und Aktivitäten aus.

 

(7) 1973: HAP Grieshaber in Warmbronn

Grieshaber (1909 – 1981), der in Reutlingen auf der Achalm lebende bedeutende Holzschneider und Maler, fand 1973 auf der Rückreise aus der DDR an der Grenze im Brückenrasthaus einen Artikel in der „Zeit“ vom 3. August mit dem Titel „Vom Abriss bedroht. Das Haus des Christian Wagner.“ Grieshaber riss den Artikel heraus und nahm ihn mit nach Hause. Dort lag er, wie seine Lebensgefährtin Margarete Hannsmann in ihrem 1986 veröffentlichten Buch „Pfauenschrei. Die Jahre mit HAP Grieshaber“ berichtet, auf seinem Stehpult neben dem Band „Gesammelte Dichtungen von Christian Wagner“, den Otto Güntter 1918 herausgegeben hatte. Der Gedichtband stammte aus der Bibliothek von Hannsmanns Großmutter. Wagner war am 15. Februar 1918, dem neunten Geburtstag Grieshabers, gestorben. Auch Grieshaber hatte den Namen des Dichters zuerst von seinem Großvater gehört. Am 6. August 1973 fuhren Grieshaber und Hannsmann nach Warmbronn, um nachzusehen, „wie das mit dem Abreißen sei, ob man uns brauche.“ Man brauchte sie. Hannsmann beschrieb den Zustand des Christian-Wagner-Hauses: „Verfall fängt an sich auszubreiten, die Dachziegel sind mürb, auf den Wänden Flecken, Abblätterndes, Löcher, zerschlagene Scheiben, morsches Gebälk, Brennesselbüsche.“ So entstand der Plan, ein Büchlein herzustellen, der Christian-Wagner-Gesellschaft zu schenken, die den Erlös zur Rettung des Hauses verwenden sollte. Grieshaber stellte sechs Rindenschnitte her: darunter Christian Wagner mit einem umgebundenen Sähtuch, Christian Wagner mit der Sichel mähend, Christian Wagner mit seiner „Kreatur“ in den Armen. Margarete Hannsmann steuerte ihr Gedicht „Das Haus des Christian Wagner“ bei. Die Fotografin Ricca Achalm, Grieshabers Tochter, hatte bei einem zweiten Besuch von Grieshaber und Hannsmann in Warmbronn Fotos vom Inneren des Dichterhauses gemacht. Im Deutschen Literaturarchiv Marbach suchten Grieshaber und Hannsmann Texte von Wagner aus, die sie im Faksimile seiner Handschrift mit veröffentlichten. Alles in allem: ein immenser Aufwand in kurzer Zeit. Der Band trägt nur den Titel „Christian Wagner – Warmbronn“, und ist unpaginiert – aber eine kostbare Rarität. 200 Exemplare wurden in Bad Cannstatt von dem Drucker Walter Cantz in einen unscheinbaren braunen Karton gebunden und mit einem verschwommenen Foto des Dichters geschmückt. Ein Exemplar befindet sich im Christian-Wagner-Archiv Warmbronn, datiert auf den 3. XI. 73. Was es wohl mit diesem Datum auf sich hat?

 

(8) 3. November 1973: Eine denkwürdige Versammlung

Zum Höhepunkt in der noch jungen Geschichte der Christian-Wagner-Gesellschaft wurde eine Feier vom 3.11.1973 in der Warmbronner Turnhalle. Anlass der Versammlung, an der rund 300 Personen teilnahmen, war die Übergabe der ersten fünf Exemplare des neuen, von Ulrich Keicher herausgegebenen Wagner-Gedichtbands durch den Konrad Theiss Verlag. In einem Grußwort sprach Prof. Dr. Wilhelm Hoffmann, Präsident der Deutschen Schillergesellschaft, über die „literaturgeschichtliche Position, in der Christian Wagner heute zu sehen ist“. Wagner sei nicht der „einfache schwäbische Bauerndichter“, als der er so oft hingestellt werde, führte Hoffmann aus, er gehöre vielmehr mitten hinein in die Reihe unserer großen Lyriker. Damit unterstützte Hoffmann die Einschätzung Keichers, die dieser im Nachwort zum Gedichtband noch einmal formulierte: Die 84 ausgewählten Gedichte sollten dazu beitragen, Christian Wagner „aus seinem idyllischen, heimatbezogenen Naturmythos an ein helleres Licht zu holen“. Deutlich wird, dass es nicht nur um eine Wiederentdeckung Christian Wagners ging, sondern um eine Neubewertung seines Werks. Hauptredner des Abends war der Pfarrer und Schriftsteller Albrecht Goes, der jahrelang in Gebersheim gewohnt hatte. Unter dem Titel „In drei Sphären“ interpretierte Goes feinsinnig und empfindsam fünf Gedichte Christian Wagners. Ulrich Keicher sprach ein Schlusswort; ein Warmbronner Streichquartett spielte einen Satz aus Mozarts Divertimento Nr. 1 („übrigens recht gut“, wie die Stuttgarter Zeitung befand) und Eisenhart von Loeper leitete als Vorsitzender der CWG eine kurze Diskussion um die Erhaltung des Christian-Wagner-Hauses. Dann wollten die Besucher aufbrechen, doch es gab noch eine unvorhergesehene Überraschung. Zwei Damen kletterten mit einem Koffer auf die Bühne: Margarete Hannsmann, die Lebensgefährtin, und Ricca, die Tochter von HAP Griehaber. In dem Koffer befanden sich 200 Exemplare eines Christian-Wagner-Buchs mit sechs Holzschnitten von HAP Grieshaber. Der Künstler schenkte sie der CWG; deren Erlös (100 DM pro Exemplar) sollte der Renovierung des Christian Wagner-Hauses dienen. Schnell waren die Bücher verkauft und die ersten 20 000 DM als Grundstock zur Renovierung des Hauses vorhanden. Die CWG ging nach diesem denkwürdigen Samstagabend mit neuem Schwung auf die Suche nach weiteren Sponsoren, und die Liebhaber von Christian Wagners Werk konnten sich über den ersten repräsentativen Gedichtband seit langem freuen.

 

(9) Der Gründungsvorsitzende: Eisenhart von Loeper

Nur vier Vorsitzende leiteten die Christian-Wagner-Gesellschaft in den bisherigen 50 Jahren ihres Bestehens. Alle vier haben der CWG aufgrund ihrer Kenntnisse, Fähig-keiten und Beziehungen ein besonderes Gepräge gegeben. Als Gründungsvorsitzen-der stand der Leonberger Rechtsanwalt Dr. Eisenhart von Loeper vom 5. Februar 1972 bis zum 11. Oktober 1975 an der Spitze der CWG. Er gab sein Amt auf der Mitgliederversammlung des Jahres 1975 an Dr. Karl Kollmann ab, weil er von Leon-berg nach Nagold verzogen war, blieb aber noch bis Dezember 1981 als Beisitzer Vorstandsmitglied. Eisenhart von Loeper hat vor allem mit zwei Initiativen die Ent-wicklung der CWG maßgeblich bestimmt. Als Natur- und Tierschützer war er daran interessiert, dass sich die CWG auch öffentlich zu aktuellen Themen „über Probleme der Schonung und Entfaltung des Lebendigen“ – Christian Wagners Lebensmaxime – äußert. Er hat diesen Schwerpunkt als zweite Aufgabe der CWG nach der Förde-rung der Kenntnis von Leben und Werk Christian Wagners in die Satzung aufneh-men lassen. So stand im Mittelpunkt der ersten öffentlichen Veranstaltung der CWG (nach der Gründungs- und der Mitgliederversammlung) ein damals heiß diskutiertes Thema. Am 8. Juli 1972 sprach Dr. med. Joachim Weitzsäcker (Brackenheim) in der Gaststätte „Grüner Baum“ über „Atomkraftwerke und Umweltschäden“. Der Referent war Vorsitzender der Schutzgemeinschaft gegen Atomkraftwerke in Lauffen a. N. In der Aussprache über den Vortrag gab ein Techniker des Kernkraftwerks Neckarwestheim heftig Contra. Die Einmischung der CWG in aktuelle gesellschaftspolitische Probleme aus dem Geiste Christian Wagners geriet allerdings in den folgenden Jah-ren etwas in den Hintergrund. Zu sehr nahm die neue Aufgabe, das Christian-Wagner-Haus zu retten, die Vorstandsmitglieder in Anspruch. Aber auch bei dieser Auf-gabe konnte von Loeper seine Kenntnisse als Rechtsanwalt erfolgreich einbringen. Aufgrund seiner Bemühungen wurde das Christian-Wagner-Haus vom Landesdenk-malamt Ende 1973 unter Denkmalschutz gestellt. Möglich wurde diese „diplomatische Meisterleistung“ des Vorsitzenden, nachdem das Denkmalschutzgesetz geändert worden war und nunmehr auch kulturgeschichtliche Bauten unter Schutz gestellt werden konnten.

 

(10) Der Langzeitvorsitzende: Karl Kollmann

36 Jahre lang stand Dr. Karl Kollmann an der Spitze der Christian-Wagner-Gesell-schaft. Er hatte das verantwortungsvolle Amt am 11. Oktober 1975 als Nachfolger des Gründungsvorsitzenden Eisenhart von Loeper übernommen. Am 24. November 2011 trat er als Vorsitzender zurück. Doch Karl Kollmann blieb weiterhin als Beisitzer Mitglied im Vorstand – er bringt bis heute seine jahrzehntelange Erfahrung in die Arbeit der CWG ein. Kollmann war einer von den Warmbronner Neubürgern, um die sich die CWG bei ihrer Gründung 1972 besonders bemühte. Zwar gehörte er nicht zu den 17 Gründungsmitgliedern, trat aber schon bei der ersten Mitgliederversammlung am 14. April 1972 der CWG bei. In seiner Rede zum 40. Jubiläum der CWG beschrieb er 2012, wie er Anfang der 1960er Jahre durch einen Essayband von Theodor Heuss auf Christian Wagner aufmerksam wurde – Jahre, bevor er mit seiner Familie 1968 nach Warmbronn zog und Wagner sozusagen als seinen ehemaligen Nachbarn entdeckte. Die ersten acht Jahre seiner Vorstandsschaft standen ganz im Zeichen der Auseinandersetzung um den Erhalt und die zukünftige Nutzung des Christian-Wagner-Hauses. Kollmann gründete eine Wählergemeinschaft, die stärkste Fraktion im Ortschaftsrat wurde, verband den Kampf um das Christian-Wagner-Haus mit anderen kommunalen Projekten, wie die Verlegung der Mülldeponie und den Erhalt der „Alte Moste“, musste aber erleben, dass er dadurch der CWG auch politische Gegner zuführte. Nachdem Warmbronn in Leonberg eingemeindet worden war, debattierte man lang und breit über eine zukünftige Nutzung des Hauses: Es sollte nicht nur Gedenkstätte, sondern ein Ort lebendiger Begegnungen werden. Der Plan, im ersten Stock die Ortsbücherei unterzubringen, zerschlug sich – Gott sei Dank, muss man heute sagen. Der von der CWG vorgesehene Architekt wurde vom Leon-berger Gemeinderat ausgebootet und durch einen anderen ersetzt, der die Renovierung „freier“ gestaltete. Doch Ende gut, alles gut: Am 14. Oktober 1983 wurde das neue Christian-Wagner-Haus feierlich eröffnet, und Karl Kollmann, um seine Erinnerungsrede von 2012 noch einmal zu zitieren, fiel ein großer Stein vom Herzen. Man konnte sich nunmehr ganz der eigentlichen Aufgabe der CWG, „der Pflege des kulturellen und geistigen Erbes Christian Wagners widmen“.
PS: Die Warmbronner Schrift „40 Jahre Christian-Wagner-Gesellschaft“ ist in diesem Jahr im Christian-Wagner-Haus kostenlos erhältlich.

 

(11) Ein Zentrum kulturellen Lebens

Die Christian-Wagner-Gesellschaft war von Anfang an nicht nur ein literarischer Verein. Natürlich blieb es ihre Hauptaufgabe, die Kenntnis von Leben und Werk des Dichters Christian Wagner zu fördern, und zwar durch die Neuherausgabe und Verbreitung seiner Schriften. Aber schon die erste öffentliche Veranstaltung nach der Gründung und der ersten Mitgliederversammlung setzte 1972 einen neuen Akzent: Mit einem Vortrag über „Atomkraftwerke und Umweltschäden“ mischte sich die CWG in eine damals heiß diskutierte Debatte ein. Mit Christian Wagners Lebensmaxime der Schonung alles Lebendigen, mit seinem ökologischen Denkansatz, sollten gesellschaftspolitische Probleme unserer Zeit beleuchtet werden. Das war vor allem ein Anliegen des Gründungsvorsitzenden Eisenhart von Loeper gewesen. Unter dem Vorsitz von Karl Kollmann, der das Amt 1975 übernahm, ging es nicht nur um den Erhalt des Dichterhauses in Warmbronn; Kollmann begann auch, die CWG zu einem Zentrum kulturellen Lebens im Ort, ja in Leonberg, auszubauen. Dazu gehörte für ihn, der selber musizierte, auch die klassische Musik. Zu einem markanten Datum dieser Entwicklung wurde der 14. Mai 1975. Veranstaltet von der Christian-Wagner-Gesellschaft gab der bekannte Tübinger Pianist Dr. Erhard Mitschischek in der Aula der Leonberger Gerhart-Hauptmann-Realschule einen Klavierabend. Er spielte Sonaten von Brahms, Beethoven und Schubert. Der Erlös des Abends wurde dem Baufonds zur Erhaltung des Christian-Wagner-Hauses zugeführt. Für die Warmbronner Konzertbesucher stellte die Firma Kappus einen Bus zur Verfügung. Immer häu-figer wurden die literarischen Veranstaltungen der CWG von klassischer Musik umrahmt; so zum Beispiel der Festvortrag von Walter Helmut Fritz zu Christian Wagners 140. Geburtstag: Der Vortrag fand am 14. November 1975 im Leonberger Haus der Begegnung statt und brachte auch den Liederzyklus „Ein Blumenstrauß“ zu Gehör, den Karl Bleyle 1909 nach Christian Wagners Gedichten komponiert hatte. Wiederentdeckung und Neubewertung von Christian Wagners Werk, gesellschaftspolitische Debatten, Konzertveranstaltungen und politische Auseinandersetzungen um die Rettung des Dichterhauses – man staunt im Nachhinein, dass die junge CWG diese thematische Vielfalt ohne größere Verluste ausgehalten hat.

 

(12) Das älteste Gründungsmitglied: Willy Birkert

Was wäre ein Verein ohne seine Mitglieder? 17 Personen gründeten am 5. Februar 1972 die Christian-Wagner-Gesellschaft; im Oktober 1974 hatte die CWG 58, ein Jahr später bereits 81 Mitglieder. Das älteste Gründungsmitglied war Wilhelm Birkert aus Warmbronn. Als er am 2. Januar 1978 im Alter von 86 Jahren starb, schrieb Gustav Kraut, ebenfalls Gründungsmitglied, im Mitteilungsblatt Warmbronn einen Nachruf auf ihn. Kraut nannte Birkert „die Keimzelle des neu erwachten Interesses an Christian Wagner“. Schon viele Jahre vor der Gründung der Christian-Wagner-Gesellschaft habe Birkert „den Gedanken an den Dichter und sein Werk“ lebendig gehalten. Birkert sei es auch gewesen, der die Warmbronner Gemeindeverwaltung zum 50. Todestag des Dichters 1968 für eine größere Wagnerfeier gewinnen konnte.
Und diese Feier, in der Otto Heuschele den Festvortrag hielt und Uta Kutter Wagner-Gedichte vortrug, habe den Anstoß für das Zusammenfinden der Christian-Wagner-Freunde in Warmbronn gegeben, die dann die CWG ins Leben riefen. Es ist kein Zufall, dass gerade Willy Birkert sich so stark für Christian Wagner einsetzte. Denn oft war er früher als junger Mann im Kreis seiner Wandergenossen, den „Naturfreunden“, von Stuttgart nach Warmbronn gepilgert, um den Dichter zu besuchen. So war Birkert für die jüngeren Wagner-Freunde weit mehr als einfach ein Mitglied der CWG; mit seinen Erinnerungen an den Dichter bildete er „eine lebendige Brücke von uns Heutigen hin zu dem Menschen Christian Wagner“ in seinen beiden kleinen Stuben.
Parallel zu den Bestrebungen der neugegründeten CWG um die Herausgabe eines Bandes mit Christian Wagners Gedichten begann Willy Birkert von Januar bis April 1972 im Mitteilungsblatt Warmbronn Wagners Prosaband „Eigenbrötler“ zu veröffentlichen. Es wurden 12 Folgen. Danach setzte er den Satzungszweck der CWG, Leben und Werk Christian Wagners zu verbreiten, weiter um, indem er in loser Folge – bis einen Monat vor seinem Tod – im Mitteilungsblatt Gedichte Wagners veröffentlichte.
„Die Wenigen von uns“, schrieb Gustav Kraut, „die näher mit Herrn Birkert bekannt wurden, haben es wohl gespürt, dass er etwas von der Strahlungskraft Christian Wagners in sich aufgenommen haben musste, das er nun selbst ausstrahlte.“

 

(13) 1974: ein Fund auf dem Stuttgarter Flohmarkt

Die Christian-Wagner-Gesellschaft zog nach ihrer Gründung auch junge Menschen an. Eins dieser jungen Mitglieder war der 26jährige Rolf Jente aus Kirchheim/Teck. Ihm verdankt die CWG sieben Fotos von Christian Wagner, die den Dichter nicht in gestellten Atelieraufnahmen, sondern im Umkreis seiner Wohnung und seines Gar-tens zeigen. Ein großer Fang war es, den Jente auf dem Stuttgarter Flohmarkt machte. Das Datum hat er nicht vergessen: Am 11. Mai 1974 – damals fand der Flohmarkt nur zweimal im Jahr statt – stöberte Jente auf dem Schillerplatz in alten Fotoalben. Plötzlich stutzte er, schaute genauer hin. „Wie erstaunt war ich“, schrieb Jente 1980 in einer Jahresschrift der CWG, „als mir beim Durchblättern der Alben auf verschiedenen Aufnahmen das unverkennbare Antlitz Christian Wagners entgegenblickte.“ Für ein paar Mark erstand Jente mehrere dieser Fotobücher, fuhr nach Warmbronn und schaute sich das Geburtshaus des Dichters an, um ganz sicher zu gehen. Das Haus war zwar eingerüstet und stand vor der Renovierung; aber Jente konnte es mit seinen Fotos vergleichen. Danach gab es keinen Zweifel mehr.
Drei der sieben Aufnahmen aus der Sammlung Jente gehören heute zu den bekanntesten des Dichters: Christian Wagner, aus dem geöffneten Fenster seiner Wohnung schauend – in der 2018 neugestalteten Ausstellung im Christian-Wagner-Haus klebt eine Vergrößerung genau in der Fensteröffnung. Christian Wagner in seiner Stube am Ess- und Schreibtisch sitzend; zwischen drei Schalen mit Speiseresten arbeitet der Dichter in seinen Manuskripten. Und drittens das vielleicht interessanteste Foto: Christian Wagner, auf dem Rücken einer lebenslustigen „Gärtnerin“ eins seiner Bücher signierend. Die junge Dame steht auf einem anderen Gruppenfoto mit derselben karierten Bluse und derselben Harke neben dem Dichter und lächelt ihn an. Jente glaubt, dass die Fotoalben aus dem Nachlass des Stuttgarter Schriftstellers Richard Ungewitter, einem Pionier der Freikörperkultur, stammen. Recht hat er wohl: Ungewitter besuchte den Warmbronner Dichter mehrmals, korrespondierte mit ihm, und seine Frau liebte die Gedichte Christian Wagners. Bevor Ungewitter sich der Schriftstellerei zuwandte, arbeitete er übrigens als Gärtnereigehilfe – ob die flotte Dame mit der Harke wohl seine Frau war?

 

(14) Erinnerung an das Gründungsmitglied Erwin Scheuerle

Was den 70jährigen Erwin Scheuerle aus Warmbronn wohl dazu bewogen hat, bei der Gründungsversammlung der CWG am 5. Februar 1972 ihr Mitglied zu werden? Ein offizielles Amt hat er im Vorstand der CWG nicht bekleidet. Aber Scheuerle, der seit seiner Heirat zusammen mit seiner Frau Marga(rete) in Warmbronn neben der Apotheke wohnte und bei der Firma Keim gearbeitet hatte, war Anfang der 1970er Jahre eine bekannte Persönlichkeit im Dorf. Er verdankte diese Bekanntheit seinen Artikeln, die er jahrelang im Mitteilungsblatt Warmbronn veröffentlichte – als Privat-person. Im Jahr 1971 schrieb Scheuerle von Nummer 8 bis 44 (also fast das ganze Jahr lang) eine Serie über „Wildwachsende Blumen, Sträucher und Bäume in und um Warmbronn“. In ihr lässt sich eine Parallele zu Christian Wagners „Sonntagsgängen“ finden: Auch Scheuerle wanderte durch Wald und Flur, beobachtete die Blumen und gliederte seine Artikel wie Wagner seine Blumengedichte nach der Blütezeit der Pflanzen. So steht auch bei ihm, dessen Artikel Ulrich Keicher 2005 unter dem Titel „Der Reichtum unserer Heimat“ neu veröffentlichte, Christian Wagners Lieblings-blume, der Seidelbast, am Anfang: Im Wald, so heißt es bei Scheuerle, „können wir nach einem mäßig kalten Winter schon im Februar den gemeinen Seidelbast (Daphne mezereum) finden.“ 1972, im Gründungsjahr der Christian-Wagner-Gesell-schaft, veröffentlichte Scheuerle ebenfalls im Mitteilungsblatt, eine lange Serie über die Vogelwelt Warmbronns. 1973 folgten seine „Geschichten aus dem alten Warm-bronn“. Als die CWG am 5. August 1975 den 140. Geburtstag Christian Wagners feierte, war auch Erwin Scheuerle dabei. Die Veranstaltung fand vor dem Haus statt, weil es drinnen viel zu eng gewesen wäre. Scheuerle las Passagen aus Wagners Prosaband „Eigenbrötler“ vor; zuerst im letzten Abendlicht, dann im flackernden Licht einer Kerze. Die Vorlesung geriet – wie die Stuttgarter Zeitung berichtete – „zu einem leidenschaftlichen Appell, die Bezeichnung ‚Bauerndichter’ und ‚Heimatdichter’ endlich zu begraben.“ Scheuerle kannte das Werk Christian Wagners gut; er musste dessen Buch „Eigenbrötler“ in einer Originalausgabe besessen haben, denn eine Neuausgabe wurde erst 1976 veröffentlicht. Scheuerle starb 1983 – die feierliche Eröffnung des renovierten Christian-Wagner-Hauses hat er nicht mehr miterlebt.

 

(15) 1975: Eine Schatztruhe wird entdeckt

Die große braune Kommode im Wohnraum der Familie Christian Wagners war schon zu Lebzeiten des Dichters der einzige Platz, an dem Manuskripte und Briefe aufbewahrt werden konnten. Nach Wagners eigener Aussage ruhten hier länger als 20 Jahre lang seine frühen Gedichte, bevor einige von ihnen schließlich doch gedruckt wurden; die ungedruckten schenkte Wagner der Marbacher Schillergesellschaft. Aber dass die Kommode 1918 bei Wagners Tod wieder mit Schriften angefüllt war, hat Jahrzehnte lang niemand gewusst. Es ist unbegreiflich, dass die Botnanger Schriftstellerin Emma Aberle 1925, als sie im Auftrag der Gemeinde Warmbronn ein „Inventar der Wohnung des Dichters Christian Wagner“ anlegte, nicht die drei Schubladen der Kommode geöffnet hat. Es dauerte noch einmal 50 Jahre, bis der Warmbronner Verleger Ulrich Keicher einen neugierigen Blick in die Schubladen warf. Wohl nicht von ungefähr, denn das Dichterhaus sollte von Grund auf renoviert werden. Keicher muss sich wie der Entdecker einer verschollenen Schatztruhe vorgekommen sein. In einem Artikel der LKZ vom 26. Juli 1975 listete Monika Mather, die Warmbronner Korrespondentin der Zeitung, den Inhalt der Schatztruhe auf. Zum Vor- schein kamen unbekannte Briefe und Karten an Christian Wagner von prominenten Zeitgenossen wie Hermann Hesse und Gustav Landauer, von der Operndiva Lilli Lehmann-Kalisch, vom Reichstagsabgeordneten Gustav Siegle, von Dichterkollegen wie Ludwig Finckh, Wilhelm Schussen, Heinrich Vierorth und Bruno Wille; „die Liste ließe sich noch lange fortsetzen“. Dazu fand Keicher Autobiographisches von Christi-an Wagner, wie ein Notizbuch mit Gedichtentwürfen, Lebenserinnerungen und Adressen. Die wertvollen Handschriften waren so feucht, dass Keicher sie erst in einer Scheune trocknen lassen musste. Im Zeitungsartikel wird vermutet, dass der unerwartete Fund „manches neue Licht in das Leben Christian Wagners“ bringen werde. Diese Vermutung hat sich bestätigt. Leider wurden die Handschriften dem Literaturarchiv Marbach übergeben, aber Ulrich Keicher hat in seinem 2003 erschienenen Christian Wagner-Doppelband viele Briefe seines Funds veröffentlicht oder ausgewertet. Immer wieder zeigt sich, nun auch in diesem Doppelband, dass in den 70er Jahren das Werk des Warmbronner Dichters neu entdeckt und bewertet wurde.

 

(16) Gründungsmitglied Friedrich Aichinger: Pädagoge und Volkskundler

„Mein Mann ist ein Schreiberling“, sagt Friedrich Aichingers Frau Agathe bei einem Gespräch im Mai 2022, „er kann sich nicht bremsen“. Auf dem Tisch liegt Aichingers Opus magnum, „Das große Buch alter und neuer Redewendungen“, 701 Seiten im din A-4 Format, ein Werk, an dem er 17 Jahre lang gearbeitet hat. Aber schon 1972, als Friedrich Aichinger zusammen mit seiner Mutter Hedwig an der Gründungsver-sammlung der Christian-Wagner-Gesellschaft teilnahm und in den Vorstand der CWG aufgenommen wurde, zeigte sich sein Hang zum Systematisieren. Am 16. De-zember 1972 hielt Friedrich Aichinger im alten evangelischen Gemeindehaus einen Vortrag über „Balladenstoffe bei Christian Wagner“. Es war die zweite Veranstaltung, die die neugegründete CWG ausrichtete; wohl eine große Ehre für den Redner, nachdem es im ersten öffentlichen Vortrag um die Gefährlichkeit der Atomkraftwerke gegangen war. Die Presse war nicht anwesend, aber das Manuskript befindet sich im Archiv der CWG. Demnach gliederte Aichinger Wagners Balladen in drei Motivgrup-pen und zitierte jeweils Beispiele, insgesamt elf Balladen. Der Vortrag wurde 1974 in den Blättern des Schwäbischen Albvereins, ohne die Balladen, gedruckt. Dort war schon im Jahr 1971 ein kleiner Artikel Aichingers erschienen, in dem Aichinger daran erinnerte, dass Christian Wagner das „Albvereinslied“ gedichtet hatte. Denn Friedrich Aichinger, Jahrgang 1930 und später Fachschulrat in einer Stuttgarter Sehbehinder-tenschule, hatte schon in seinem Elternhaus in Bernstadt bei Ulm Dichtungen Chris-tian Wagners kennengelernt. Auch im Bücherschrank der Eltern seiner Frau in Stuttgart befand sich ein „blaues“ Buch von Christian Wagner. So waren die beiden schon an den Dichter „gewöhnt“, als sie 1965 nach Warmbronn zogen. Lebhaft erinnern sich Agathe und Friedrich Aichinger an Gespräche über Christian Wagner, die schon vor der Gründung der CWG in den Wohnungen ihrer Warmbronner Be-kannten geführt wurden. Und immer wieder nennen sie Gustav Kraut als treibende Kraft dieser beginnenden Wagner-Renaissance. Im Dezember 1977 musste Fried-rich Aichinger aus gesundheitlichen Gründen sein Amt im Vorstand der CWG ab-geben. Sein Lieblingsgedicht ist freilich keine Ballade Wagners, sondern dessen „Blühender Kirschbaum“.

 

(17) Gründungsmitglied Gustav Kraut (1908 – 1992): der Motivator

Was waren das noch für Zeiten, als in Leonberg ein vier Spalten langer Artikel über den „vergessenen Dichter“ Christian Wagner erscheinen konnte, der mit 14 lateinischen Zeilen aus den Metamorphosen des römischen Dichters Ovid begann! Der Autor des Textes hieß Gustav Kraut, der Redaktionsleiter der LKZ Karl Geibel, und das Datum des bemerkenswerten Textes war der 4. Januar 1972. Einen Monat spä-ter gehörte Kraut zu den Gründungsmitgliedern der Christian-Wagner-Gesellschaft; auch trat er ihrem Vorstand bei. Alle, die Gustav Kraut kennen lernten, stimmen darin überein, dass er die treibende Kraft der „Christian-Wagner-Wiedergeburt“ in Warm-bronn gewesen ist. Er hatte in Stuttgart Maschinenbau studiert, war bis zum Zweiten Weltkrieg bei der AEG in Berlin beschäftigt und nach dem Krieg bei der Firma Bosch tätig. Schon in seiner Studienzeit wanderte Kraut zusammen mit seinem Bundesbruder Anton Kühnle, dem Enkel Christian Wagners, von Stuttgart nach Warmbronn – und der genius loci ließ ihn fortan nicht mehr los. Seit 1966 lebte er in Warmbronn und organisierte, bereits bevor die CWG gegründet wurde, Zusammenkünfte von Wagner-Freunden in Privatwohnungen. Nie machte er ein Hehl daraus, dass ihm die Erhaltung des Christian-Wagner-Hauses zwar wichtig war; aber viel wichtiger war es ihm, die Kenntnis von Wagners Leben und Werk zu verbreiten. Er hat deshalb später mit großer Freude viele Besucher durch das Haus des Dichters geführt, unter ande-ren auch HAP Grieshaber und Margarete Hannsmann. Am 3. Oktober 1976 trat Kraut ohne Angabe von Gründen aus dem Vorstand der CWG zurück, schrieb aber weiter-hin im Auftrag der CWG zahllose Bittbriefe um Spenden. So hat er wesentlich dazu beigetragen, dass die CWG 120 000 DM für die Sanierung des Wagner-Hauses zu-sammenbrachte. Nicht nur in der lateinischen Sprache war Gustav Kraut zu Hause, sondern auch im Russischen. Deshalb konnte er 1969 einer Anregung der Zeitschrift „Novyi Mir“ des sowjetischen Schriftstellerverbands folgen und zusammen mit Wilhelm Birkert und Arthur Groß Gedichte Christian Wagners mit denen des russischen Bauerndichters Alexej Wassiljewitsch Kolzow (1809 – 1842) vergleichen. Erstaunliche Parallelen traten zutage. Das Warmbronner Mitteilungsblatt veröffentlichte am 13. Februar 1970 eine Probe dieses Vergleichs.

 

(18) 1973: ein Abend mit dem Schriftsteller Georg Schwarz

Der erste Autor, den die neugegründete Christian-Wagner-Gesellschaft zu einer Lesung aus eigenen Werken einlud, war Georg Schwarz. 1902 in Nürtingen geboren, hatte Schwarz in der 1920er Jahren einige Zeit in Eltingen gelebt, nach seinen eigenen Worten in einer „Kutscherstube“ am Glemseck. Damals verdiente er sich, bevor er als Schriftsteller Erfolg hatte, seinen Lebensunterhalt zum Teil mit Klavierspielen bei Tanzveranstaltungen im Eltinger „Bären“. Zwei seiner Erzählungen, die Schwarz 1970 in einem Taschenbuch mit dem Titel „Geschichten aus dem Unterholz“ veröffentlichte, stammen aus dieser Eltinger Zeit des Autors. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Ulrich Keicher, der Warmbronner Antiquar und Verleger, Georg Schwarz zu einem Autorenabend am 23. Juni 1973 in das Warmbronner „Sportheim“ einlud. Doch Schwarz war auch einer der Wenigen gewesen, die Christian Wagners Andenken nach dem Zweiten Weltkrieg wach hielten. Schwarz hatte 1948 eine Auswahl von knapp 70 Gedichten Christian Wagners unter dem Titel „Der große Feierabend“, mit einem Nachwort versehen, veröffentlicht. Im Jahr 1950 folgte der Roman „Makarius“, in welchem Schwarz den Warmbronner Dichter als einen seherischen Waldbewohner von großer ethischer Ausstrahlung beschreibt. Über die Warmbronner Veranstaltung von 1973 gibt es leider keinen Pressebericht. Doch in der Einladung heißt es, dass Schwarz „eine seiner Erzählungen“ lesen und aus seinen Erinnerungen plaudern werde, die er „aus unserer Umgebung mitgenommen“ habe. Vielleicht hat Schwarz seine Erzählung „Der Rebell im Nebenzimmer“ zum Vortrag gebracht. Der Rebell, das war Erich Mühsam, der – wie Schwarz formulierte – zu einer misslungenen Revolution beigetragen hatte und dadurch fast weltbekannt geworden war. Mühsam entwickelte an einem Samstagabend im Eltinger „Bären“ sein politisches Programm, und der Ich-Erzähler war einer der etwa vierzig Zuhörer. Anschließend trafen sich die beiden in einem Nebenzimmer der Gaststätte, tranken drei Flaschen Wein miteinander und übernachteten in dem Raum auf zwei Ledersofas. Als Schwarz am nächsten Morgen um neun Uhr geweckt wurde, war Mühsam schon vor zwei Stunden von einem Eltinger Arbeiter auf dem Motorrad nach Stuttgart zu seinem nächsten Auftritt gefahren worden.

 

(19) 1977: Ein Brückenschlag von Marbach nach Warmbronn

Christian Wagner hat mit seinem literarischen Schaffen im Marbacher Schiller-Nationalmuseum immer eine gute Unterkunft gefunden. 1907 schenkte der Dichter seinem Freund Otto Güntter, dem Begründer der Schillergesellschaft, erstmals einen Teil seiner Manuskripte. 1919 verkaufte Christian Wagners Sohn weitere Handschriften seines Vaters an das Schiller-Museum, und der Enkel Bruno Wagner übergab, wohl Ende der 1970er Jahre, ebenfalls Briefschaften und Gedicht-Manuskripte nach Marbach. Seit der Gründung der Christian-Wagner-Gesellschaft nahmen Vertreter des Deutschen Literaturarchivs regelmäßig an öffentlichen Veranstaltungen und internen Sitzungen der CWG teil. Sie förderten die Herausgabe von Christian Wagners Werken und traten für den Erhalt des Christian-Wagner-Hauses ein. 1977 wagten die Marbacher einen neuen Brückenschlag nach Warmbronn, in der Hoffnung, dass die Leonberger ihrem angeheirateten Dichtersohn künftig mehr Ehre erweisen. Von Juli bis Oktober 1977 warb eine Kabinett-Ausstellung in Marbach für die „Wiedergeburt“ Christian Wagners. Mit 100 Exponaten, verteilt auf sechs Vitrinen, war das die größte Ausstellung, die bis zu diesem Zeitpunkt dem Warmbronner Dichter gewidmet wurde. Vom Renommée Marbachs profitierte nicht nur Christian Wagner, sondern auch die Christian-Wagner-Gesellschaft. Friedrich Pfäfflin sagte in seiner Eröffnungsrede mit Blick auf die schwierigen Verhandlungen zur Renovierung des Christian-Wagner-Hauses: „Wir wären glücklich, wenn diese Ausstellung dazu beitragen würde, das Werk und die Person Christian Wagners den Leonberger Bürgern und ihren bestellten Vertretern nahezubringen, damit alle Freunde des Dichters auch in Zukunft Warmbronn mit dem Namen des Mannes erwähnen, den wir hier feiern.“ Die Ausstellung wurde im November und Dezember 1982 noch einmal in der Stadtbibliothek Böblingen gezeigt, bevor sie 1983 als Dauerausstellung ins neue Christian-Wagner-Haus kam. Dort warb sie bis 2018 für die Verbreitung der Kenntnis von Leben und Werk des Warmbronner Dichters. Parallel zur Marbacher Ausstellung erschien 1977 eine Ausgabe des Marbacher Magazins, in dem Friedrich Pfäfflin erstmals eine umfangreiche Chronik der Lebensstationen Wagners veröffentlichte – eine bemerkenswerte Leistung, auf die spätere Autoren aufbauen konnten. In einem Extra-Bändchen veröffentlchte Pfäfflin auch erstmals den Briefwechsel zwischen Christian Wagner und Hermann Hesse aus den Jahren 1909 bis 1915.

 

(20) 1977: Harald Hepfer wird Vorstandsmitglied

26 Jahre lang, seit der Mitgliederversammlung vom 13. Dezember 1977 bis zur JMV vom 27. November 2003, war Harald Hepfer zweiter Vorsitzender der Christian-Wagner-Gesellschaft. Danach blieb er noch weitere 9 Jahre lang bis 2012 als Beisitzer im Vorstand. Mit seiner unermüdlichen Tätigkeit hat er dazu beigetragen, dass die Christian-Wagner-Gesellschaft weit über die Region hinaus bekannt und anerkannt wurde. Die ersten Kenntnisse über Christian Wagners Leben und Werk vermittelte ihm Ulrich Keicher, und Gustav Kraut schenkte ihm Richard Weltrichs ästhetisch-kritische Studie über Christian Wagner in einer „wohlfeilen“ Ausgabe von 1906. Das Buch ist inzwischen aus Hepfers Bibliothek wieder in den Besitz der CWG gelangt. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte er nicht, aber an der „denkwürdigen“ Versammlung vom 3. November 1973 hat er teilgenommen. Kaum in den Vorstand gewählt, begann Harald Hepfer mit bemerkenswerter Ausdauer jährlich Schriften zu veröffentlichen. Das wurde sein wichtigster Beitrag zur Geschichte der CWG. Er nannte sie zunächst bescheiden „Jahresschrift der Christian-Wagner-Gesellschaft“. Die ersten fünf Ausgaben von 1978 bis 1982 sind vergriffen und von Kennern und Sammlern heiß begehrt. Ab 1992 erschienen dann die „Warmbronner Schriften“; 24 Ausgaben hat Hepfer insgesamt betreut. Man kann ihn sich kaum anders als Herausgeber vorstellen; ständig auf der Suche nach neuen Themen; ständig mit seiner kleinen Handschrift, die noch kleiner als die von Christian Wagner ist, Druckfahnen korrigierend. Alle Vorstufen hat er zur Freude des Archivars penibel aufgehoben, denn wegwerfen konnte er nichts. Inzwischen hat Hepfer alle seine Exemplare der Christian-Wagner-Gesellschaft geschenkt; und da er die Angewohnheit hatte, in die einzelnen Ausgaben Briefe, Zeitungsausschnitte, Fotos einzulegen, gab es bei der Durchsicht noch manche freudige Überraschungen. In der Einleitung zur ersten Jahresschrift 1978 formulierte Hepfer das Programm ganz in Übereinstimmung mit der Satzung der Christian-Wagner-Gesellschaft. Die Publikationen „wollen die Kenntnis vom Leben und Werk des Dichters fördern“ und enthalten Texte, Bilder, Briefe von Christian Wagner; Vorträge, Aufsätze, Essays, Interpretationen über ihn und sein Werk oder Arbeiten, die Christian Wagner geistig verwandt sind.

 

(21) Peter Härtling unterstützt die Christian-Wagner-Gesellschaft

Unter den Autoren, die sich für Christian Wagners Lebenswerk einsetzten, war Peter Härtling wohl der prominenteste. Am 18. Juni 1977 besprach Härtling in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Christian Wagners Gedicht „Ostersamstag“; und zwar in der Serie „Frankfurter Anthologie“, einer Gedicht-Sammlung mit Interpretationen, die seit 1974 in jeder Samstagsausgabe der FAZ erschien. Härtling schrieb: „Dieses Gedicht scheint an ein Datum gebunden, an den Ostersamstag, den Tag nach der Kreuzigung Christi, doch es erzählt von einem Schnee, der immer und überall fallen, und einem Frost, der einen auch in der größten Hitze überkommen kann. Wenn ich die metrisch eigensinnigen Strophen mehrfach nacheinander lese, kommt es mir vor, als hörte ich eine helle Stimme makellos singen, als sei es ein Lied, dessen Melodie ich schon lange kannte und dessen Wörter die Erinnerung an die Musik brauchten, um wieder gegenwärtig zu sein. Christian Wagners Gedicht befindet sich in der schwebenden Mitte zwischen Kunst- und Volkslied, so wie manche Gedichte Mörikes oder Brentanos. Es hat seinen Autor schon beinahe vergessen.“
Peter Härtling konnte bei der Abfassung seines Textes nicht wissen, dass er in demselben Jahr ein weiteres Mal in Sachen Christian Wagner tätig werden würde. Am 7. November 1977 schrieb er, abermals in der FAZ, „Ein zorniges Gedenkblatt für Christian Wagner“. Was war geschehen? Der Leonberger Gemeinderat hatte mit den Stimmen der CDU und der Freien Wähler die städtischen Zuschüsse für das zu renovierende Christian-Wagner-Haus gekürzt. Ein Abgeordneter der Freien Wähler führte als seinen Gewährsmann ausgerechnet den Nazi-Dichter Will Vesper an, dem Wagners Poesie ebenfalls missfallen habe und fügte hinzu, dass sich Hermann Hesse nur für Christian Wagner eingesetzt habe, weil er dessen Tochter Luise imponieren wollte.
Diese verbale Entgleisung und der Mehrheitsbeschluss des Gemeinderats brachten Leonberg deutschlandweit in die Kritik. Die Kommentare reichten von „Kulturprovinz“ bis zum „Banausentum“. Peter Härtling blieb in seinem „Zorn“ allerdings moderat. Er schrieb: „Unlängst ehrte das Marbacher Schiller-Nationalmuseum den Sänger der Osteranemonen, der Zionstöchter mit einer Ausstellung. Das hätte helfen können. Aber wen kümmert der flüchtige Ruhm, wenn Finanzen und Parteiräson drücken? Oder sind es doch Unkenntnis und Unverstand?“
Christian Wagners Gedicht „Ostersamstag“ ist heute eine Station auf dem Christian-Wagner-Dichterpfad, und Peter Härtling hat sich auch in späteren Jahren für Christian Wagner eingesetzt, zum Beispiel in einem Festvortrag von 2006 mit dem Titel „Christian Wagners Zukunft – unsere Vergangenheit?“

 

(22) Der Verleger Jürgen Schweier

Unter den aktiven Mitgliedern aus der Gründungszeit der Christian-Wagner-Gesellschaft befanden sich überraschend viele Männer (Frauen waren nicht aktiv), die noch nicht 40 Jahre alt oder erst knapp über 40 waren. Zu diesen „Jungen“ zählten Eisenhart von Loeper, Ulrich Keicher, Karl Kollmann, Harald Hepfer – aber auch Jürgen Schweier. 1941 in Stuttgart geboren, hatte Schweier in Tübingen Germanistik studiert. Dann lebte er sechs Jahre lang in Kalifornien und geriet mitten hinein in den Beginn der Studentenbewegung. Ausgerechnet in Santa Cruz stieß Schweier erstmals auf den Namen Christian Wagners, und zwar in einem Buch von Werner Kraft. Seitdem ging Schweier der Name des Warmbronner Dichters nicht mehr aus dem Kopf. Schweier kehrte 1971 nach Deutschland zurück, im Gepäck die Sehnsucht nach der Literatur seiner Heimat. In den Annalen der Christian-Wagner-Gesellschaft taucht sein Name erstmals 1973 auf: Schweier nahm am 23. Juni des Jahres an der Abend-Veranstaltung mit dem Autor Georg Schwarz teil. In die Anwesenheitslisten der Mitgliederversammlungen von 1976 und 1977 trug er sich mit einem Kreuzchen in der Rubrik „Mitglied“ ein, obwohl er kein Geld übrig hatte, den Jahresbeitrag der CWG zu zahlen.
1975 gründete Jürgen Schweier mit einem Kredit der Stadtsparkasse Esslingen einen Verlag und konzentrierte sich auf eine Sparte, für die sich bisher niemand zuständig fühlte: Literatur aus Schwaben. Christian Wagner wurde zu seinem Bestseller-Autor. Am 2. Februar 1975 schrieb Schweier an Bruno Wagner, den Enkel des Dichters, und bat um die Erlaubnis, einen Band mit ungefähr 75 Naturschutz- und Umweltschutzgedichten zu veröffentlichen. Er merkte an, dass eine solche Auswahl keine Konkurrenz für die Keicher-Ausgabe von 1973 sein werde. Er erhielt die Genehmigung; aber aus dem Projekt wurde nichts, genauso wie sein Versuch, „die schon längst fällige kritische Gesamtausgabe der Wagnerschen Werke in die Wege zu leiten“, scheiterte. Doch 1976 erhielt der Schweier Verlag die Verlagsrechte an den Büchern „Eigenbrötler“, „Sonntagsgänge“, „Weihegeschenke“ und „Neue Dichtungen“. Ab 1976 veröffentlichte Schweier diese Bücher Christian Wagners, teils als Reprints, teils als Neudrucke. In insgesamt sechs Büchern mit der Gesamtauflage von 20 000 Exemplaren trug Schweier wesentlich dazu bei, dass der bis dahin unterschätzte Christian Wagner wieder in der literarischen Welt beachtet wurde. Auch neu bewertet hat Schweier den Warmbronner Dichter: Denn sein ursprüngliches Anliegen, Christian Wagners „ökologisches“ Bewusstsein bekannt zu machen, hat Jürgen Schweier nie aufgegeben, sondern auch in Vorträgen verbreitet.
Schweier hatte immer die Vision, dass das Gesamtwerk Christian Wagners von einem einzigen Verlag betreut wird. Dazu ist es nicht gekommen; es wird ihm nicht gefallen haben, dass die CWG auch noch begann, Christian Wagners Werke in Einzelausgaben neu herauszugeben.