Festvortrag zum 100. Todestag Christian Wagners,
gehalten am 17. 2. 2018 im Evangelischen Gemeindehaus Warmbronn
Volker Michels
»Ein sanfter Strom von Kraft und Wirkung«
Christian Wagner und Hermann Hesse
Unvergesslich bleibt mir ein Nachmittag im Juni 1980, als uns der Verleger Ulrich Keicher – noch vor der geglückten Rettung des Christian-Wagner-Hauses – in Warmbronn die beiden armseligen, ebenerdigen Kammern zeigte, in denen der Dichter sein Leben verbracht und alle seine Bücher geschrieben hat. Jedes Mal, wenn ich in komfortable Redaktions-Suiten oder Ateliers kulturschaffender Kollegen komme, ist mir die Beschämung wieder gegenwärtig, die der Blick in die Christian Wagner-Behausung hinterließ. Aus welch provinzieller Enge hier weltoffene Weite erschlossen wurde, wie geringfügig der Aufwand sein kann, um dauerhafte Ergebnisse zu erzielen, und welcher materiellen Dürftigkeit ein Reichtum an Einfühlungsvermögen und Zivilcourage, an Musikalität und Sprachkraft abgewonnen wurde, ist erstaunlich und ermutigend zugleich. Dabei war, einer historischen Steuerschätzung zufolge, Warmbronn damals einer der ärmsten und rauhesten Flecken des unweit von Stuttgart gelegenen Amtes Leonberg. So wenig also braucht es, um viel zustande zu bringen, das Beschwerliche zu beflügeln, dem Destruktiven etwas Konstruktives entgegen zu setzen, die sensationellen Superlative durch Beschränkung und liebevolle Konzentration auf das Detail zu entmachten.
Schon immer war mir Christian Wagner vorgekommen wie eine Inkarnation des guten Geistes aus Wilhelm Hauffs Märchen »Das kalte Herz«. Doch erst beim gebückten Zehn-Schritte-Gang durch diese bettelarmen zwei Wohnstuben war ich mir sicher: er ist der Schatzhauser, also das keineswegs bequeme, doch immer, wenn es kritisch wird, plötzlich gegenwärtige und hilfsbereite Glasmännlein, das im Württemberg des beginnenden Industriezeitalters den Versuchungen des Holländer Michel, den Verlockungen des materiellen Größenwahns Paroli bietet. Er ist das gute Gewissen seines Landes, die mahnende Gegenkraft zu den mobilen Errungenschaften aus Untertürkheim und wo überall sonst schwäbischer Fleiß Berge versetzt und Lebensräume zerstört.
Dass es nur Sonntagskinder sind, die seine Botschaft vernehmen, war Christian Wagners Schicksal. Man hat diesen Dorfschreinersohn, der sich anmaßte, mit seiner autodidaktischen Bildung die Fortschrittseuphorie des Neunzehnten Jahrhunderts zu stören und der im »Heldentum des Nitroglyzerins« den humanitären Bankrott des anbrechenden Industriezeitalters zu beklagen, damals ebenso wenig ernst genommen wie unlängst die Atomkraftgegner vor Tschernobyl. Sein Beispiel, alles Lebendige zu schonen, weil alles, was auf der Erde lebt, dasselbe Existenzrecht habe wie der Mensch, war ein lästiger Gewissensappell, hatte man doch eben erst die »Wirtschaftlichkeit« rationeller Massentierhaltung entdeckt. Wer sich dem widersetzte wie dieser Kleinbauer, der es nicht übers Herz brachte, seine Kühe schlachten zu lassen, nachdem sie mehr als 10 Jahre lang zu seinem Unterhalt beigetragen hatten, der Kälber kaufte, die für den Schlachthof bestimmt waren, Gänse vor dem Stopfen bewahrte und ihnen nach 30jähriger Lebensdauer einen natürlichen Tod gönnte, der galt als anachronische Kauz, dem es ganz recht geschah, wenn er es auf keinen grünen Zweig brachte mit seinem Motto: „Findst du am Weg ein hilflos Wesen, / Nehms in Pflege bis es ist genesen.“ Kein Wunder, dass die Tiere in seiner Nähe ihre Fluchtreflexe vergaßen und seine Zutraulichkeit erwidert haben. Denn er hielt es für einen „grässlichen Irrtum,“ zu glauben, dass die Tiere nur um der Menschen da sind und rücksichtslos von uns verbraucht werden dürfen. Dass er »lieber ein barmherziger Heide als ein unbarmherziger Christ« sein wollte und unsre Kultur als glänzenden Lack über der inneren Rohheit der Seele bezeichnete, galt als anmaßende Herausforderung der bestallten Honoratioren der Kirche. Dabei ist es seine ins Kosmische geweitete Naturfrömmigkeit mit einem Gott jenseits der Konfessionen, was Wagners Schriften Weitblick und Wärme gibt, indem es den herrschsüchtigen Dünkel religiöser Intoleranz überwindet.
Der Kompromisslosigkeit, mit der Christian Wagner das für richtig Erkannte verfolgte und um den Preis bitterster Armut keine Trennung zwischen Ideal und Leben zugelassen hat, verdanken seine Arbeiten ihre Glaubwürdigkeit. Verse wie die vier Zeilen aus dem Gedicht »Oswalds Vermächtnis« gehören für mich zum Bewegengsten, was die deutsche Lyrik hervorgebracht hat. Hundert Jahre vor Erich Fromm enthalten sie bereits die Quintessenz eines Denkens, welches der verhängnisvollen Überbewertung des Habens eine Absage erteilt zu Gunsten des Seins:
»Dein ist alles, was in Tal und Hügeln
Lichtvoll sich in dir kann widerspiegeln;
Dein die Himmel selbst, und selbst die Sterne,
Wenn du Glanz hast für den Glanz der Ferne.«
Es gibt Leute, die einen Juwelier brauchen, um sich einbilden zu können, diesen Glanz zu besitzen. Im nahen Pforzheim lebt ja eine ganze Industrie davon. Christian Wagner dagegen fand denselben Glanz im blanken Lichtblitz des Wassers in einer Welle, gerade so wie in »einer kleinen Glasscherbe im Kehricht« sobald sich darin die Sonne spiegelt. Und seine Erkenntnis, dass wir nur das wirklich besitzen, das wir auch innerlich erworben haben, ist heute so aktuell und unpopulär wie zu seinen Lebenszeiten, wo ihm nichts anderes übrigblieb, als sich zu verschulden, um die Veröffentlichung seines ersten und auch noch künftiger Bücher zu ermöglichen.
»Soviel ich weiß«, schrieb Hermann Hesse 1911, »sucht Wagner jetzt nach einem Verleger für sein neues Buch! Ist das nicht ein Zerrbild: der Dichter ohne Verleger, der suchend durch einen Wald von Verlegern ohne wirkliche Dichter irrt «? Aber auch dieser, sein frühester, im Januar 1912 in der Münchner Zeitschrift »März« veröffentlichter Appell zugunsten Christian Wagners blieb ergebnislos. Erst als Hesse auch bei seinen eigenen Verlegern nicht locker ließ, ist es zur ersten, überregional wirksamen Publikation der Lyrik Christian Wagners gekommen, die Georg Müller 1913 nur deshalb wagte, weil er dank der Herausgeberschaft Hermann Hesses kein Absatz-Risiko mehr erwartete. Verbunden war sie mit einer gleichfalls von Hesse vermittelten, 2000 Goldmark betragenden Ehrengabe des Rheinischen Frauenbundes, der einzigen offiziellen Würdigung, die Christian Wagner je erlebt hat. Im Oktober 1912 bedankte er sich bei Hesse: Noch nie in den 77 Jahren seines bisherigen Lebens habe er so viel Geld beieinander gesehen, nun könne er endlich seine Schulden tilgen.
Wer den erfreulichen Zuwachs an kenntnisreicher Sekundärliteratur verfolgt hat, die in den letzten Jahrzehnten über Christian Wagner veröffentlicht wurde, kommt nicht umhin, sich über die sonderbare Aufsässigkeit zu wundern, mit welcher Hesses Einsatz für den Kollegen in einigen dieser Publikationen bedacht wird. Da ist die Rede davon, Wagner habe sich in seinen Schreiben an Hesse »sehr viel unvoreingenommener und unverstellter« geäußert als dieser in seinen Antworten. Als ob Hesse einen Anlass zu Vorbehalten, geschweige denn zur Verstellung gehabt hätte! Wenn seine Antworten auf Wagners beredsame Zuschriften etwas knapper und sachbezogener sein mussten, so lag das nicht nur an Hesses ungleich größerer Belastung als arrivierter und vielgeforderter Autor, Publizist und Empfänger tausender Leserbriefe, sondern auch daran, dass er Wertschätzung und Lob lieber öffentlich als privat mitteilte. Und daran hat es ja weiß Gott nicht gefehlt, wie wir aus seinen etwa 3000 Buchbesprechungen wissen, die nun endlich in 5 umfangreichen Bänden, der 20bändigen ersten Gesamtausgabe zugänglich sind, worin Autoren aus allen Zeiten gewürdigt werden.
So erfahren wir das Genaueste über Hesses Verhältnis zu seinen Schriftstellerkollegen und damit auch zu Christian Wagner weniger aus den etwa 20 erhalten gebliebenen Antworten auf dessen Briefe, als aus Hesses Buchbesprechungen und öffentlichen Würdigungen des Kollegen und jenem weit verbreiteten Offenen Brief »An Christian Wagner“, zu seinem 80. Geburtstag, ein Schreiben, das in der 1977 erstmals veröffentlichten Hesse-Wagner-Korrespondenz zu allererst hätte berücksichtigt werden müssen. Dort fehlt diese Laudatio, wie übrigens auch andere seiner Antworten auf Wagners Zuschriften leider ganz.
Die im Oktober des letzten Jahres erschienene, von Barbara Bross-Winkler und Paramjeet Gill besorgte Neuausgabe des Briefwechsels kenne ich bisher nur aus den mir vor der Veröffentlichung gemailten Probeseiten, da von der definitiven Edition bisher kein Belegexemplar eingetroffen ist. Doch bleibt zu hoffen, dass dort Hesses zwölf, insgesamt etwa 80 Seiten umfassenden Würdigungen Christian Wagners einbezogen werden konnten, die übrigens nicht nur zu Wagners Lebzeiten von den unterschiedlichsten Journalen im gesamten deutschen Sprachraum veröffentlicht worden sind. Denn erst sie vermögen ein differenziertes Bild von Hesses Wertschätzung dieses Dichters zu geben.
Auch zwei weiteren Vorwürfen begegnet man häufig in der neueren Sekundärliteratur, aus welchen der Rückschluss gezogen wird, seine Wertschätzung Wagners könne doch nur eine halbherzige gewesen sein, weil er ihn niemals in Warmbronn besucht habe.
Wer auch nur ein wenig mit Hesses Korrespondenzen und seiner Biographie vertraut ist, weiß, dass er (bis auf ganz seltene Ausnahmen) jedem privaten Umgang mit Schriftstellerkollegen eher aus dem Weg gegangen ist, während er Musiker und Maler gerne aufgesucht hat. Denn in aller Regel kamen die Kollegen zu ihm. So war es bei Stefan Zweig, bei Romain Rolland, bei Thomas Mann, André Gide, Martin Buber und auch bei Christian Wagner, der ihn im August 1909, wenige Monate nach ihrer ersten persönlichen Begegnung anlässlich einer Dichterlesung Hesses am 14. April 1909 in der Stuttgarter Liederhalle am Bodensee besucht hat. Zu dessen Freude, denn Hesse schätzte den mehr als 40 Jahre älteren Kollegen und seine Bücher schon seit langem. Bereits im Alter von 16 Jahren hatte er von Wagner gehört und vier Jahre später sein erstes Buch »Märchenerzähler, Brahmine und Seher« (1885), danach dessen »Neue Dichtungen« (1897) gelesen, die er für sein schönstes und reichstes Buch hielt. Überdies kannte und schätze er auch Wagners Tochter Luise, die im Vorjahr drei Monate in Hesses Haushalt am Bodensee ausgeholfen hatte.
Christian Wagner selbst scheint, neuesten Forschungen des verdienten Historikers und Schriftstellers Axel Kuhn zufolge, von Hermann Hesse zuerst wohl durch seine jüngste Tochter Luise erfahren zu haben. Sie kannte den Verfasser der Schülertragödie „Unterm Rad“ bereits seit 1906, eine Ausgabe dieses Romans, fand sich unter ihren Büchern. Woher aber Hesses Frau Mia wusste, dass Luise in Stuttgart eine Lehre als Haushälterin abgeschlossen hatte, ist noch ungeklärt. Jedenfalls hat Mia, nachdem ihre bisherige Magd Guste sie im April 1908 verlassen musste, bei Christian Wagner angefragt, ob nicht Luise ihr künftig zur Hand könne im ersten eigenen Haus, das die Hessefamilie im Vorjahr bezogen hatte. Auf einer an Mia Hesse nach Gaienhofen gerichteten Postkarte vom 15.4.1908, die Axel Kuhn im Marbacher Literaturarchiv entdeckte, bedauert Christian Wagner, dass seine Tochter 10 Tage zuvor in Mannheim eine ihr angenehme Stelle angetreten habe: »Gern hätte ich sie Ihnen gegönnt, schon deswegen, um mit dem berühmten Dichterhause in Fühlung zu kommen«, schreibt Wagner in diesem frühesten Dokument ihres Dialoges. Somit wäre erwiesen, dass der früheste Kontakt zwischen den beiden Autoren durch Luise Wagner entstanden sein muss, die daraufhin ihre Stelle in Mannheim aufgab, um bereits zwei Monate später ins Hessehaus in Gaienhofen zu übersiedeln. Doch konnte sie dort nur drei Monate bleiben. Denn bereits im September 1908 musste sie nach Warmbronn zurückkehren, um nach der Heirat ihrer Schwester Pauline, die bisher dem Vater den Haushalt geführt hatte, deren Aufgaben zu übernehmen.
In sechs an ihren Vater gerichteten Postkarten Luises, die 2002 bei ihren Nachkommen in Winterthur aufgetaucht sind und inzwischen der Christian- Wagner-Gesellschaft überlassen wurden, ist Luises Aufenthalt in Gaienhofen dokumentiert, zwei davon versehen mit ersten Grüßen Hesses an Christian Wagner. Darüberhinaus aber scheint nichts über Luises Zeit im Hessehaus überliefert zu sein. Auch nicht über die Gespräche, die ein Jahr später (im August 1909) bei Wagners Besuch in Gaienhofen stattgefunden haben. Es sei denn Hesses Bemerkung: »Überaus selten habe ich diesen reinen und zarten Mann schelten und polemisieren hören. Geschah es einmal, so galt seine Entrüstung stets der Veräußerlichung und Bürokratisierung des Lebens und den Servilismus der Menge.« … »Er besaß so viel Phantasie, daß es ihm nicht möglich war zu begreifen, warum die meisten Menschen das Glück nicht da suchen, wo es einzig sein kann, sondern in den seltsamsten Symbolen und Bildnissen, in Geld und Ehrenzeichen, in Ämtern, Uniformen, Nationalstolz und Heldentum … darum hat er während des Krieges entsetzlich gelitten und ist am Krieg gestorben.“ Hinzu kommt, was Hesse über den Besuch des 75jährigen am Bodensee berichtet. In einem 1915 veröffentlichten Essay »Ein Achtzigjähriger«, der auch ein Gratulationsschreiben an Wagner enthält, erinnert er sich: »Lieber verehrter Christian Wagner! Ich kann nicht an Sie denken, ohne Sie wieder so zu sehen, wie Sie damals nach einem Besuch in Gaienhofen von mir Abschied nahmen. Ich hatte Sie eine kleine Stunde weit begleitet, bis zu jener Grenze, an welche ich besonders werte Gäste zu begleiten pflegte. Es war ein Waldrand, bei dessen Betreten man von den Schweizer Bergen Abschied nahm, um nach dem Durchschreiten des Gehölzes plötzlich dem Radolfzeller See und dem Hegau gegenüber zu stehen. Da gaben wir einander die Hände, und Sie standen noch einen Augenblick, mich mit Ihrem hellen Blick festhaltend, und Ihre greise, kleine Gestalt ist mir seither für immer so im Gedächtnis geblieben: am Waldrand stehend, den Blick in meinen Blick gerichtet, ein Streif Sonnenlicht auf der hohen Stirn. Dann wandten Sie sich, schritten mit erstaunlicher Rüstigkeit und Schnelligkeit in den Wald hinein, ohne nochmals zurück zu sehen, und der durchsonnte Wald verschlang den kleinen vergeistigten Greis wie der Märchenwald einen Gnom. … Ich weiß noch, wie ich Ihre kurzen, raschen Schritte, die Schritte eines Wanderers, der nichts von Alter weiß, hügelabwärts in den Wald hinein verklingen hörte. Ich dachte dabei an Ihre Wachsamkeit, an Ihr feines Ohr, an Ihre seltsame Empfindlichkeit für die kleinen, wirren Stimmen der Natur, und dachte an jenen Vers von Ihnen:
›Unheimlich hört sich an im Wald das Knarren
Der Tannen, die, von andern überhangen,
Hinauf zum grauen Abendhimmel starren.
So stört in Nächten oft, in kummerbangen,
Der Schlafende den andern durch ein Scharren
Und seltsam Rufen, wirr im Traum begangen.‹«
Mehr ist von diesem Besuch nicht überliefert, aber in den zwölf, vielfach publizierten Besprechungen, in welchen Hesse für Christian Wagner geworben hat, kommt dessen Naturell anschaulich zum Vorschein: »Er hat alles aus der Natur, fast nichts aus Büchern empfangen und das Fundament seiner Begabung sind seine überaus scharfen, sensiblen, fast mikroskopisch aufnehmenden Sinne.« Eben das unterscheidet Wagner von all den Literaten mit ihren Fertigteilen aus zweiter Hand. Bei der Empfindlichkeit seiner Sinne braucht er über das, was er wahrnimmt und schildert, nichts Angelesenes zu wissen, um instinktiv das Richtige zu treffen. Und wenn Wagner von den klimatischen Einflüssen spricht, wie sie sich auf das Gedeihen Feldfrucht wie auch auf seine eigene Produktivität auswirken, dann stammen sie aus eigener Anschauung als authentische, seinem Alltag entnommene Erfahrungen. Dasselbe, wenn er nach längerem Gebrauch einer bestimmten Versform vermerkt: Er habe den Hexameter nun satt, so wie ein Acker, nachdem er längere Zeit die gleiche Frucht getragen, ihrer zuletzt überdrüssig wird und von klee- oder rübenmüdem Boden spricht. Ebenso verlange sein Inneres nun nach Abwechslung, nach – wie er sagt – geistiger Fruchtfolge.
„Es gibt“, schrieb Hesse in seinem Offenen Brief zu Wagners 80. Geburtstag, »von Ihnen ein Gedicht ›Blühender Kirschbaum‹, das zeigt das freudige Leben der Bienen, Fliegen, Ameisen und Käfer im blühenden Baum, darin ist so viel Leben, eine solche Ehrfurcht vor der Natur, eine so heilige Berauschtheit von der Fülle der lebendigen Gestaltungen auf Erden und zugleich so viel Fröhlichkeit und gute Laune, daß es mich immer an ein chinesisches oder japanisches Gebilde erinnert«. Dieser Dichter könne, fährt Hesse fort, »die Einheit alles Lebendigen fühlen, ein Verkünder der Liebe und Schonung alles Lebens und ganz von innen her eine Weltanschauung finden, die mit der vedischen und buddhistischen eng verwandt ist“. Sein kosmisches Gefühl und seine mythische Weisheit erlaubten ihm »Dinge zu sagen, die der klügste Literat und zarteste Ästhet nicht hat und kennt.« Denn er habe »mit Wald und Feld, mit Gras und Blumen, mit Tieren und Gestein gelebt wie mit Brüdern, während er unter den Menschen ein wenig verstandener Fremdling und Sonderling sei. Aus dem Christentum, wie es die Kirchen praktizieren, habe er sich weit entfernt in ein frommes Heidentum, dessen Gott jenseits der Konfessionen lebt. Dies deckt sich mit Wagners Klage vom August 1913: am wenigsten gelte er hier in seiner Heimat um Leonberg herum. Hier sei er stets der Gegenstand des Spottes seiner Miteinwohner gewesen. Trost dagegen habe er stets im Wald gefunden und sich von ihm erzählen lassen. Kein Mensch habe ihn reizvoller und schöner zu unterhalten vermocht. Deshalb hat Hesse in seinen Würdigungen gerne Wagners Verse zitiert: »Lass hinter dir die Heimat, die dich quält / Und nicht den Geist begreift, der dich beseelt.“
Um so merkwürdiger ist es, dass im Nachwort zu dem bereits erwähnten, leider unvollständigen Briefwechsel Hesses mit Wagner, der 1977 als Heft 6 der Marbacher Magazine erschien, Hesse verdächtigt wird, er habe dem Kollegen nahegelegt Dialektgedichte zu schreiben, um ihn auf das Format eines Heimatdichters zu reduzieren. Dies ist eine Unterstellung, die gleichwohl in der neueren Sekundärliteratur über Wagner mit rätselhafter Begierde aufgegriffen wurde. Möglich war sie, weil einer von Hesses Briefen, worin er auf Wagners Abneigung gegen Mundart-Gedichte reagiert, bis heute noch nicht wieder aufgetaucht ist. Bevor wir aber den Wortlaut jenes verschollenen Schreibens nicht kennen, halte ich die Schlussfolgerung, Hesse habe Wagner den Vorschlag gemacht, Dialektgedichte zu verfassen, für verwegen. Denn weder in Hesses sonstiger Korrespondenz noch in den Tausenden seiner Buchbesprechungen gibt es einen Anhaltspunkt dafür, dass er ein Freund von Dialektgedichten gewesen ist. Ich selbst, der ich als fünfzehnjähriger Schüler arglos genug war, Hesse für ein handschriftliches Gedicht, das er mir geschenkt hatte, mit einem Bändchen schwäbischer Mundartlyrik zu danken, bekam dieses Buch postwendend und mit einem würzigen Kommentar von ihm zurück. Und spricht etwa Hesses Antwort auf Wagners Bemerkung über Dialektgedichte wirklich für die Behauptung, er habe diesem nahegelegt, Mundartgedichte zu schreiben?: »Es gibt«, heißt es in Hesses Reaktion vom 29.7.1914, wenige Ausnahmen, wo im Dialekt wahrhaft poetische Gedichte gemacht wurden, so einige von Hebel und von Klaus Groth, aber das sind seltene Ausnahmen. Sonst ist der Dialekt zumal der schwäbische, wohl nur der groben Komik günstig.« Welches Interesse kann jemand, der das schrieb, daran gehabt haben, der ohnehin üblichen Bagatellisierung Wagners zum schwäbischen Heimatdichter durch solch einen Vorschlag Nahrung zu geben?
Es ist mir unbegreiflich, welche Genugtuung man heute daran finden kann, ausgerechnet denjenigen Autor, der sich zu Lebzeiten Christian Wagners am wirksamsten für ihn eingesetzt hat und ohne dessen Bemühungen weder Kurt Tucholsky noch Karl Kraus, weder Theodor Heuss noch Paul Zech, von vielen der Nachgeborenen seien es nun Albrecht Goes, Karl Krolow, Hermann Lenz, von Peter Härtling oder Peter Handke, ganz zu schweigen, auf diesen Dichter aufmerksam geworden wären, durch derlei Mutmaßungen herabzusetzen. Wird Christian Wagner damit irgendein Dienst erwiesen? Hermann Hesse ist tot. Er kann hierzu keine Stellung mehr nehmen und – was bedauerlicher ist – sich heute, besser als ich es vermag, zu Wagners 100. Todestag äußern. Da er es gewiss nicht versäumt hätte, seinem Kollegen, dessen Schriften er »einen sanften Strom von Kraft und Wirkung« wünschte, auch diesmal zu würdigen, sei es erlaubt Hermann Hesse selbst mit einem 1919 in der »Neuen Zürcher Zeitung« veröffentlichten Nachruf auf Christian Wagner zu Wort kommen zu lassen:
»Es gibt Dichter, welche allen Bemühungen der Journalisten um ihre Berühmtheit siegreich widerstehen. So einer ist Christian Wagner. Wie viel haben wir uns um ihn bemüht, wie viel haben wir unsern Freunden von ihm erzählt, öffentlich und privatim, und wie wenig hat es genutzt! Nach wie vor liegen die schönen Gedichte dieses Weisen in ihrer kindlichen märchenhaften Schönheit da, verzaubert und unzugänglich, geschützt durch die Mauer der echten Originalität, die der Bürger und Leser so ungern überklettert.
Um es wieder einmal zu wiederholen: Christian Wagner, der vor einem Jahre über achtzigjährig starb, war ein Bauer in Württemberg, der seit Jahrzehnten Gedichte machte, keine Bauerngedichte, sondern richtige. Er ist vom schwäbischen Schillerverein mit Ehrengaben ausgezeichnet worden, hat einen der Ehrenpreise vom Bund rheinländischer Frauen erhalten, seine schönsten Gedichte in knapper Auswahl gab ich vor einigen Jahren ohne sichtlichen Erfolg heraus.
Jetzt erschien also eine neue Ausgabe, reichlicher als die meine, und hoffentlich erfolgreicher. Sie ist, von einem etwas andern Gesichtspunkt aus als die meine, sehr gut gemacht (Wagner ist keineswegs leicht auszuwählen) und sieht gefällig aus. Der alte Wagner aber, der ein kleiner, zäher, alter Bauer war und zu den wenigen echten Zauberern und Wurzelmännern gehört hat, die ich kannte, der ist während dieses lärmenden Welttheaters hinweggeschlichen und hat die bessere Seite aufgesucht. Wie oft hat er, einer der wenigen Aufrechten daheim im Reich, mir in der Kriegszeit einen seiner Grüße voll wilder Bitterkeit und Anklage gesandt!
Er war ein Friedensmann, und nicht aus Schwäche, sondern aus kindlicher Stärke. Er besaß so viel Phantasie, dass es ihm nicht möglich war zu begreifen, warum die meisten Menschen das Glück nicht da suchen, wo es einzig sein kann, sondern in den seltsamsten Symbolen und Bildnissen, in Geld, in Ehrenzeichen, in Ämtern, in Uniformstücken, in Nationalstolz und Heldentum. Er begriff das nicht, der alte Wagner, und darum hat er während des Krieges entsetzlich gelitten und ist am Krieg gestorben. Das ist doppelt schade, denn von sich aus wäre dieser Achtzigjährige ohne Zweifel mindestens zweihundert Jahre alt geworden. So gesund war er, bei aller mimosenhaften Zartheit seiner knabenhaften, stolzen, glühenden Seele.« (am 14.1.1919 in der »Neuen Zürcher Zeitung«.)
Zweihundert Jahre? Dann würde er heute noch leben. Begnügen wir uns damit festzustellen, dass viele seiner Schriften noch lebendig genug sind, um uns so zahlreich zu seinem 100. Todestag zusammenzuführen. Und hoffen wir, dass er, der ja stets in gutem Einvernehmen mit dem Jenseits gelebt hat und im Vertrauen auf die durch alle Verwandlungen unzerstörbare Beständigkeit der Seele auch den Tod als Wandlung, als Formenwechsel und Übergang zu neuem Leben verstanden hat, seine Vision erfüllt gefunden hat. Denn, Hesse zufolge, gab es für ihn kein Ende: „Er sah „in Tier und Stein, in Baum und Schilf, in Blume und Schmetterling verwandte und geliebte Seelen, die ihn an Vergessenes und Zukünftiges mahnten, an neues Leben, das zuvor schon vielmals in anderen Formen über die Erde gegangen war.“
Wie heißt es in einem von Wagners Gedichten?
„Kannst du wissen, ob von deinem Hauche
Nicht Atome sind im Rosenstrauche?
Ob die Wonnen, die dahingezogen,
Nicht als Röslein wieder angeflogen?
Ob dein einstig Kindesatemholen
Dich nicht grüßt im Duft der Nachtviolen?“
Dank dem erfreulichen Einsatz der Christian-Wagner-Gesellschaft und dem verlegerischen Mut von Jürgen Schweier ist das Werk dieses Dichters heute in einem Umfang und einer Vollständigkeit lieferbar wie nie zuvor. Es wäre unser eigener Schaden, diese Ressourcen ungenutzt zu lassen und auf den regenerierenden Zuwachs an Wahrnehmungs- und Lebensqualität zu verzichten, den sie für uns bereithalten.