Oswald und Klara – ein Stück Ewigkeitsleben
Nur 100 Häuser und 500 Einwohner zählte das dörfliche Warmbronn zu Lebzeiten des Dichters und Bauern Christian Wagner. Unendlich groß hingegen das poetische Universum, das er entwirft, um der Liebe und der Erinnerung Raum zu geben: Oswald und Klara durcheilen mit einem Flügelschlag die Weiten des Weltalls von einem Stern zum anderen. Zehn Jahre vor der Einsteinschen Raumzeit verlieren in Wagners 1897 veröffentlichtem Werk Zeit und Raum ihr Maß und ihre Richtung in einem kosmischen Tanz, der Vergangenheit und Zukunft durcheinanderwirbelt und gigantische Entfernungen zum Punkt zusammenstaucht. Planeten werden da geboren, leuchten in allen Farben und torkeln nur einen Augenblick später, Jahrmilliarden wie nichts zersprengend, ihrem Ende entgegen. Eine verglühende Sonne sendet todbringende Strahlen, selbstleuchtende Lebewesen setzen Glanzpunkte in einem tiefschwarzen, von keinem Stern beschienenen Meer. Von diesem Herz der Dunkelheit führt manche Reise zurück in elysische Gefilde, gelandet wird aber, in bester Science-Fiction-Manier, auch auf Gestirnen, die geprägt sind von einer bis zum Äußersten technisierten und industrialisierten Zwecklandschaft.
Kosmische Katastrophen, der endlose Kreislauf von Werden und Vergehen können der Liebe, die dieses Paar verbindet, nichts anhaben. Als seien sie über Zeit und Raum hinweg quantenmechanisch verschränkt, gehören Oswald und Klara einander auf ewig an. Ob in Menschengestalt, ob als Flamingos oder farbenprächtige Falter – ja, ob als wimmelnde Urtierchen oder gar in der Gestalt zweier Wassertropfen in einer vorzeitlichen Stalaktitengrotte, ihre Seelen begegnen sich überall aufs Neue wieder.
So gigantisch, fremd und staunenswert dieses Universum, so überschaubar und vertraut sein heimatlicher Kern, Bezugspunkt und Sehnsuchtsort für Oswald und Klara: In diesem Fokus liegt das Dorf, liegt der Wald, lädt das Gasthaus zu Wein und scherzendem Gespräch ein, hier wachsen die gemeinsamen Kinder auf. Und hier liegt auch der Friedhof. Denn Christian Wagner hat mit dieser kühnen Utopie dem Gedenken an seine verstorbene Ehefrau Christiane einen Ort gegeben. So ist das Buch „Oswald und Klara“ auch und vor allem ein Zeugnis grenzenloser Sehnsucht:
Das Leben ist ewig! Wir finden
Uns wieder auf anderem Stern.
Neuausabe 2018
Preis: 14 €
Rezension / erschienen am 17.3.2018 in der Leonberger Kreiszeitung:
Poetische Metamorphosen in Zeit und Raum
Aus Christian Wagners Gedankenwerkstatt: „Oswald und Klara. Ein Stück Ewigkeitsleben“
Von Doris Alice Caumanns
Dass Christian Wagner als Bauer öfter mal seine Sense mit dem Federkiel vertauscht hat, um Gedichte zu schreiben („Sonntagsgänge“), in seinem Heimatdorf Warmbronn mit seinen gerade mal 500 Seelen dafür zum kauzigen Sonderling gestempelt worden ist und mit Hermann Hesse seelenverwandt war, ist anlässlich seines 100. Todestags inzwischen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Dass er aber auch gedanklich und literarisch in den Weiten des Weltraums zu fernen Planeten unterwegs war, zeigt die neue Veröffentlichung der rührigen Christian-Wagner-Gesellschaft: „Oswald und Klara. Ein Stück Ewigkeitsleben“.
In einem locker gefügten Zyklus, den Wagner ursprünglich „Planetenleben“ nennen wollte, finden sich Kapitelüberschriften wie „Ein Himmelssegler“, „Der Komet“, „Eine Jahrmilliarde nachher“ und „Drillingssonnen“. Andrea Wieck rückt in ihrer Einleitung Wagners Werk in den Kontext zeitgenössischer literarischer Utopien einerseits von Jules Verne über Kurd Laßwitz bis zu H.G. Wells, der realen technischen und astronomischen Fortschritte der damaligen Zeit andererseits.
Die Literaturwissenschaft unterscheidet gewöhnlich Raum- und Zeitutopien – die Besonderheit von Wagners Text, der Prosa mit Lyrik, Dialoge wie zwischen Hatem und Suleika und sachliche Berichte vereint, liegt darin, dass er nicht nur ferne Raumdimensionen im Weltall erkundet, sondern zugleich die Zeiten verwirbelt und letztlich der „Ewigkeitsdimension“, dem „Ewigkeitsleben“, nachspürt.
Axel Kuhn verweist in seinem Nachwort auf die biographische Situation Wagners zur Zeit der Niederschrift: Seine zweite Frau Christiane war gerade gestorben, und so sieht Kuhn in dem ungewöhnlichen Werk auch ein Stück „Trauerarbeit“. Christiane („Nane“) wird im Text beim Namen „Klara“ direkt erwähnt: „damals hieß sie Nane.“ Und „Oswald“ ist wohl eine Chiffre für Christian Wagner, der sich selbst bei der Feldarbeit beobachtet, in einem „Gasthaus zu den Sonntagsgängen“ einkehrt und um Klara „Im Kloster der Klarissinnen“ trauert.
Zum Aufbruch in fremde Planetenwelten braucht Wagner weder Raketen noch Wurmlöcher oder anderen SF-Schnickschnack: Mit „Schaluppe“ und „Gondel“ wird gesegelt, ein Aufbruch – der eigentlich eine Wiederholung ist, eine Wiederkehr des Daseins in immer neuen Gestalten: „Wer kann wissen, wie oft unser damaliges Erdendasein sich schon wiederholt hat“ und sogar: War nicht Klara als „blaue Blum‘ auf der Wiese“ und „ich als begehrlicher Falter“?
Die „Mosaiksteinchen“ der eigenen Physis werden immer neu zusammengesetzt. Dabei spiegeln Oswald und Klara sich nicht nur in der Vergangenheit ihrer eigenen Biographie („Hochzeitszug“), sondern erleben Erinnerung und „hinter der Erinnerung“ ebenso wie Ovidsche Metamorphosen ihrer Seele in wechselnden Gestalten.
In der ewigen zyklischen Wiederkehr, wie sie in den fernöstlichen Religionen des Hinduismus und Buddhismus gelehrt wird und denen Wagner nahe
stand, erleben Oswald und Klara, dass sie immer schon beieinander waren: „Ja gewiss, liebe Klara: Wir sind schon unzählbar oft bei einander gewesen, früher, weit früher, wo diese Erde noch nicht war.“ Und es wird sie „durch alle Ewigkeit“ in liebender Verbundenheit geben – auch „eine Jahrmilliarde nachher“.
Hier treffen sich Wagners Gedanken mit Vorstellungen moderner Physiker und Astronomen. Der schwedische Astronom Gustaf Strömberg (1882-1962) hat in seinem Artikel „Space, Time and Eternity“ (1961) postuliert, dass senkrecht zu den vier bekannten Dimensionen die sogenannte „Ewigkeitsachse“ verlaufe, in der eine allumfassende Verbundenheit gegeben sei.
Wagner hat mit „Oswald und Klara“ ein labyrinthisch verzweigtes poetisches Perpetuum mobile geschaffen, in dem alles und alle – von fremden Planetensystemen bis zu einzelnen Wesen – unaufhaltsam in Bewegung sind. Planeten und Monde gehen in Flammen auf, wundersame Wesen „von fast ewiger
Lebensdauer bei seligem Fast-nichts-Bedürfen“ segeln vorbei. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verwirbeln in einem Tanz der Zeiten, und Oswald und Klara sind bald Blume und Falter, bald menschliches Liebespaar – und wenn Oswald die Natur nach Klara fragt, so gibt ein Windstoß die Antwort: Sie ist „allüberall“!
Der Zyklus „Oswald und Klara“ erlaubt einen Blick in die ungewöhnliche Gedankenwerkstatt des Schriftstellers, der nicht nur in ökologischer Hinsicht ein Visionär und in seinem pazifistischen Humanismus ein Vorbild, sondern auch philosophisch inspirierend war: „Das Leben ist ewig. Wir finden uns wieder auf anderem Stern.“