Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Christian Wagner – Leben und Werk“ am 18. Februar 2018

Axel Kuhn

„Frisch und neugeboren“

Was würde Christian Wagner sagen, wenn er in einer „Wiederverkörperung“ unsere neue Ausstellung zu Gesicht bekäme? Vielleicht erinnert er sich an sein gleichnamiges Gedicht, das mit den beeindruckenden Zeilen beginnt:

„Nicht zugrunde geht, was du verloren;
an dich tritt es, frisch und neugeboren.“

Nicht der Tod des Dichters, sondern dieses Gedicht „Wiederverkörperung“ setzt den Schlusspunkt in der Dauer-Ausstellung „Christian-Wagner – Leben und Werk“, die wir heute in seinem Wohnhaus eröffnen. Allen Legenden vom unverstandenen Sonderling zum Trotz, der nie aus seinem idyllischen Dorf Warmbronn herausgekommen sei, breitet sie ein reiches und erfülltes Leben aus. In rund 180 Objekten –  60 Prozent von ihnen sind Originale – kann das Werk Christian Wagners nunmehr für die heutige Zeit neu bewertet werden. Denn die aktuelle Werkschau ist nicht nur größer als die mit dem Charme und dem Wissensstand der 1980er Jahre entwickelte alte Ausstellung; sie versucht auch, dem traditionellen Christian-Wagner-Bild einige frische Farbtupfer aufzusetzen.

Den ganzen ersten Stock umfasst jetzt die Ausstellung: Sie beginnt im Flur, setzt sich in den beiden alten Ausstellungsräumen fort und endet in dem großen Raum, der bisher nur für Versammlungen benutzt wurde. Im Erdgeschoss konnte ja bereits Ende 2016 die nach alten Fotos restaurierte Wohnung der Familie Wagner eingeweiht werden. An der Küchenwand hängt dort die große informative Biographieleiste, sodass wir in der eigentlichen Ausstellung auf viele biographische Informationen verzichten konnten. Es gibt zwar einen chronologischen Faden, aber in den einzelnen Räumen werden jeweils eigene Schwerpunkte gesetzt. Das heißt auch, es ist egal, in welchem Raum man mit der Besichtigung beginnt. Im Flur geht es um Christian Wagners Weg zum Wissen und zur Dichtung, in Raum eins um sein Werk und dessen Vermarktung, in Raum zwei um seine Reisen und seine Musen und in Raum drei um sein großes Lebensthema der Schonung alles Lebendigen.

Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen Objekte, entweder Originale, Faksimiles oder Reproduktionen. Und diese Objekte sollen im Idealfall Geschichten erzählen. Ein Begleittext weist dem Betrachter den Weg zu diesen Geschichten und – wiederum im Idealfall – kann der Besucher die Geschichte zu diesem Objekt ohne professionelle Führung selbständig entdecken.

Das klingt vielleicht ein bisschen abstrakt, und deshalb möchte ich ein Beispiel anführen. Im Flur, gleich in der ersten Vitrine, zeigen wir unter dem Titel Erinnerungsstücke auch Christian Wagners Ehering. Anscheinend eine Reliquie, an der man schnell vorübergehen könnte. Aber es steht ein Text dabei. Er lautet:

„Am 18. Januar 1871 verlobt sich Christian Wagner mit Christiane (Nane) Kienle. Es ist ein historischer Tag. Im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles wird Wilhelm I. von Preußen zum Deutschen Kaiser ausgerufen – nach dem Sieg Deutschlands gegen das Frankreich Napoleons III. In Anspielung auf den Sieg Preußens und Englands gegen das Frankreich Napoleons I. bei Belle-Alliance (Waterloo) 1815 schreibt Christian Wagner unter dem 18. Januar 1871 in sein Haushaltsbuch La Belle Alliance (das heißt wörtlich Schöne Verbindung).“

Mit diesem Text transportiert Christian Wagners Ehering eine Botschaft. Der angehende Dichter zeigt Geschichtskenntnisse, die man von einem einfachen Bauern nicht erwartet. Und er lässt (schon 1871, vierzehn Jahre vor seiner ersten Buchveröffent-lichung!) seine privaten Lebensdaten mit den Sternstunden der Weltgeschichte korrelieren. Das macht er nicht nur einmal. In Raum eins können Sie in der Vitrine, die Christian Wagners Spätwerk zeigt, den bemerkenswerten Satz des Dichters lesen:
„Vorgestern (4. Juli, glückliches Omen, Fest der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten) ist mein neuestes Werkchen “Neuer Glaube“ in die Welt hinausge-schickt worden.“
Spätestens nach solchen Sätzen wird man Abschied nehmen von dem liebgewordenen Klischee des Warmbronner Bauern, der sechs Tage lang seine Äcker bestellt und dann am Sonntag drauf ein paar Gedichte schreibt. In der Ausstellung wird die Frage thematisiert, wie Christian Wagner zu seinem Wissen und zu seinen dichterischen Fähigkeiten gekommen ist. Die Frage wird gestellt, aber nicht abschließend beantwortet. Christian Wagner weiß die Antwort anscheinend selber nicht, wie er in seinem Gedicht von 1893 zugibt, das ebenfalls den Titel „Wiederverkörperung“ trägt:

„Wer war ich einst? Von wem ward mir dies hohe
Geistleben und der heilgen Dichtung Lohe?
Wes Erbe bin ich? Wer als neugeboren
Trat wieder in mich aus des Grabes Toren?“
Reinkarnation hin oder her, sein Handwerk muss auch ein neugeborener Erbe erst erlernen. Wir wissen, dass Christian Wagner viele Gedichte, nicht nur seine eigenen, auswendig aufsagen konnte. Ich glaube daher, dass er sich Versmaß und Strophen-form seiner Gedichte von Vorbildern angeeignet hat, sei es aus dem Deutschen Lesebuch für untere und mittlere Classen von Dr. Mager, das ihm geschenkt wurde, sei es aus Büchern, die er sich in Bibliotheken auslieh. Deshalb zeigen wir in einer Flurvitrine ein Exemplar dieses Lesebuchs, das wir von einem Sammler erwerben konnten. Deshalb zeichnen wir seinen Fußmarsch in die Stuttgarter Landesbibliothek nach, als seinen wörtlich genommenen Weg zum Wissen.
Wenn Christian Wagner auch von einem hohen Geistleben erfüllt war, so musste er doch lange und ungeduldig um seine erste Buchveröffentlichung kämpfen. Man ist ja geneigt, jemanden, der erst im Alter von 49 Jahren sein erstes Buch in der Hand halten kann, einen Spätentwickler zu nennen. Das ist aber bei Christian Wagner nicht der Fall. Noch im Flur zeigen wir seine zunächst vergeblichen literarischen Anfänge.
Außer einer Erzählung und einem Gedicht bleiben mehrere Manuskripte zwei Jahrzehnte lang in seiner Kommode liegen, weil er keinen Verleger findet. Die Welt hat nicht unbedingt auf ihn gewartet. Oder besser gesagt: Die literarische Welt war lange Zeit noch nicht reif genug, um die Lohe seiner heilgen Dichtung wahrzunehmen.
Treten Sie vom Flur aus rechterhand in den Raum eins der Ausstellung, so eröffnet sich Ihnen endlich Christian Wagners Werk. Wir zeigen natürlich alle Erstausgaben seiner Bücher, auch den überaus selten gewordenen Erstling „Märchenerzähler, Bramine und Seher“ – letzteren mit einer kleinen Inszenierung: den mühevollen Beginn vom Manuskript über die Vorfinanzierung durch Schuldscheine bis zur ersten Rezension.
Binnen kurzem wird der bisher unbekannte Autor zum weithin, vor allem zunächst in Stuttgart, beachteten „Verfasser der Sonntagsgänge“. Christian Wagner hat diesen Aufstieg durch eine, wie wir heute sagen würden, kluge Vermarktungsstrategie nachhaltig unterstützt – ganz ohne die Hilfe eines Literaturagenten oder eines geschäfts-tüchtigen Verlegers. Er lässt sich Visitenkarten drucken, er gibt eine Warmbronn-An-sichtskarte mit Ortsbild und seinem Konterfei in Auftrag, besucht Fotostudios und verwendet die Aufnahmen zu drei verschiedenen Porträt-Postkarten. Zwei Rechnungen der Leonberger Lichtbildwerkstätten Karl Stadelmanns aus den Jahren 1913 und 1914 erzählen die Geschichte von der Imagepflege des Erfolgsautors. In beiden Jah-ren bestellt Christian Wagner 1000 Ansichtskarten. Also muss er im Jahre 1913 ein-tausend Karten verschickt, mithin durchschnittlich drei Karten pro Tag geschrieben haben.
An dieser Stelle möchte ich den Rundgang durch die Ausstellung kurz unterbrechen und noch einmal auf die Auswahl der Ausstellungsstücke zu sprechen kommen. Wir stellen etwa doppelt so viele Exponate aus wie in der alten Ausstellung. Noch interessanter ist folgende Zahl: Während in der alten Ausstellung zu mehr als 80 Prozent Objekte zu sehen waren, die uns aus Marbach leihweise zur Verfügung gestellt wurden, stammen zwei Drittel der neuen Ausstellungsobjekte aus den Beständen des Christian-Wagner-Archivs Warmbronn.
Dahinter verbirgt sich eine Erfolgsgeschichte des Christian-Wagner-Archivs, auf die ich zu sprechen kommen darf, weil sie in einer Zeit begann, in der ich noch nicht für das Archiv zuständig war. Die meisten Ausstellungsobjekte sind nunmehr Dauerleih-gaben der Familie Christian Wagners, sei es der Erben von Wagners Tochter Luise Wagner-Pfenninger, sei es der Enkel Christian Wagners, Bruno und Erich Wagner. Ich bedanke mich bei allen Leihgebern der Familie Wagner, dass sie der Christian-Wagner-Gesellschaft den dichterischen Nachlass vertrauensvoll zur wissenschaftlichen und musealen Auswertung übergeben haben, und ich hoffe, dass sie mit der Präsentation ihrer Leihgaben in der Ausstellung zufrieden sind. Nebenbei sei hinzugefügt, dass das Warmbronner Christian-Wagner-Archiv mit diesen Leihgaben zu einer Forschungsstelle geworden ist, die niemand mehr missachten kann, der sich ernsthaft mit Leben und Werk Christian Wagners beschäftigen möchte. Denn wir haben bei weitem nicht alles ausstellen können, was uns die Erben Christian Wagners zukommen ließen und noch immer zukommen lassen.
Der zweitgrößte Leihgeber ist das Deutsche Literaturarchiv Marbach bzw. die Marba-cher Arbeitsstelle literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Würt-temberg. So stammen zum Beispiel drei Highlights der Ausstellung aus Marbach: wie bisher die großformatigen Christian-Wagner-Porträts von Emilie Weisser und Ferdinand Herwig in Raum eins sowie erstmals auch eine Eichenholzbüste Christian Wagners von Johannes Maihöfer in Raum drei. Bisher war nur ein Gipsabdruck dieser Büste zu sehen gewesen, der an die Qualität des Originals bei weitem nicht heran reicht. Wir bedanken uns bei dem Leiter der Arbeitsstelle, Herrn Dr. Thomas Schmidt, für die Bereitstellung von Ausstellungsobjekten sowie bei Susanne Brogi von der Abteilung Bilder und Objekte für die Ausleihe der Eichenholzbüste.
Auch das Stadtarchiv Leonberg gehört zu den größeren Leihgebern. Wir danken sei-ner Leiterin Bernadette Gramm nicht nur für einige Faksimiles aus der in Leonberg erschienenen Glems- und Würm-Gauzeitung, für einige Foto-Vorlagen, sondern vor allem dafür, dass wir das großartige Gruppenbild des Eltinger Waldfreund-Klubs Frühauf, der sogenannten Waldechten, im Original zeigen dürfen.
Den meisten von Ihnen, meine Damen und Herren, wird dieser Klub nicht bekannt sein. Er bestand seit 1902 und setzte es sich zum Ziel, die Natur in Feld, Wald und Flur zu erhalten und zu erleben. Insofern war er ein Vorläufer der Naturfreunde- und der Wander-Bewegung. Christian Wagner wurde sein Ehrenmitglied und stand immer wieder im Mittelpunkt der Vereinsaktivitäten. Die Klubmitglieder stifteten auf der Höhe zwischen Eltingen und Warmbronn auch die Christian-Wagner-Ruhebank, die vor einiger Zeit vom Enkel des damaligen Vorsitzenden dankenswerter Weise erneuert wurde. Inmitten der vielfältigen Beziehungen, die damals zu Christian Wagner von Berlin bis München geknüpft wurden, verbinden wir mit der Erinnerung an die Wald-echten auch ein Stück Eltinger Geschichte mit den, heute würde man sagen, alterna-tiven Aufbruchsbewegungen um 1900.
Setzen wir nun unseren Ausstellungsrundgang fort und betreten wir den Raum zwei. Er ist, wie eingangs erwähnt, Christian Wagners realen Reisen und den Gedankenflügen zu seinen Musen gewidmet. Ich habe auch angedeutet, dass wir versuchen, dem traditionellen Wagner-Bild einige frische Farbtupfer aufzusetzen. Das ist hier in Raum zwei auch der Fall. Der Warmbronner Dichter ist öfter auf Reisen gewesen, als man denkt. Natürlich sind Wagners drei Italienreise bekannt, die ihm von Gönnerin-nen und Gönnern finanziert wurden. 1896 ging es von Stuttgart nach Genua, 1904 und 1911 nach Rom und Neapel. Auch seine dritte Italienreise endete 1911 nicht, wie bisher angenommen, in Rom.
Seiner Muse Julia Strobel schrieb Wagner nämlich am 30. April 1911 (diesen Text können Sie in der Ausstellung nachlesen): „Doch auch in körperlicher Leistung war ich trotz meiner 75 Jahre noch auf der Höhe: Ich erstieg die hunderte von Stufen zur Kuppel der Peterskirche in Rom, ebenso die Plattform vom schiefen Turm in Pisa, war mit auf dem Vesuv und ließ mich in einem kleinen Kahn in der blauen Grotte von Capri herumrudern. Aber die Reise, so schön sie auch war, gestaltete sich mitunter zu einer furchtbaren Hetze.“
Hier deutet sich der Beginn des Massentourismus an, vor allem, wenn man weiß, dass Christian Wagner und seine Tochter Luise mit einer Reisegruppe unterwegs waren, die den schönen Titel „Caravane Miller“ trug. Zahlreiche ungeschriebene Ansichtskarten brachten Vater und Tochter von dieser Reise mit nach Hause. Sie erinnern daran, dass die furchtbare Hetze von Monument zu Monument noch nicht, wie heute, durch Fotografierpausen unterbrochen wurde.
Das Ausland betrat Christian Wagner zuerst 1895 auf seiner von ihm sogenannten Schweizerreise. Ebenfalls dokumentiert haben wir die erst vor kurzem in unseren Blick gekommene Rheinreise, die Wagner 1906 zusammen mit seinem Freund, dem Warmbronner Pfarrer Paul Dörr, von Karlsruhe bis Köln unternahm.
Und dann Christian Wagners Lesereisen in Württemberg! Auf einer eigenen Schau-tafel listen wir 19 Reisen zwischen 1889 und 1912 auf; die Liste ist sicher nicht voll-ständig und klammert zudem seine zahlreichen Besuche in Stuttgart aus. Nimmt man noch Wagners Fahrt nach München von 1895 und seine zweite Schweizreise zur Hochzeit seiner Tochter Luise im Jahre 1912 hinzu, so werden Sie mir zustimmen:
Dieser Dichter ist alles andere als ein Stubenhocker; er ist vielmehr reiselustig, so lange es seine Gesundheit erlaubt.
Meine Damen und Herren! Es mag überraschen, aber es stimmt: Je mehr man sich mit Christian Wagner beschäftigt, desto deutlicher wird es, dass er sich wie ein Schriftsteller verhält; ja, dass er wie ein solcher lebt. Seit seinem 25. Lebensjahr 1860 schrieb er Gedichte; und nicht erst 1884 hatte er einen Strauß davon zur Ver-öffentlichung bereit. Zwanzig Jahre lang bemühte er sich, wie so viele andere, ergebnislos um einen Verleger. Als ihm schließlich der Kragen platzte, nahm er drei Schuldscheine auf und veröffentlichte seinen ersten Band auf eigene Kosten. Dann kam überraschend der Erfolg. Fortan bemühte er sich, diesen Erfolg zu mehren: auf Lesereisen und unablässig in Zusendungen von Gedichtabschriften an Zeitungen und Journale. Innerlich gewachsen ist er und an dichterischer Ausdruckskraft gewon-nen hat er durch Erfahrung persönlichen Leids in der Familie. Das zeigt sich vor al-lem an seinem großartigen Zyklus „Oswald und Klara. Ein Stück Ewigkeitsleben“, in dem er den Tod seiner Frau Nane verarbeitet. Als seine lyrischen Quellen, der Wald, die heimatliche Flur und deren zunehmende Zerstörung, zu versiegen drohten (im wörtlichen Sinne abgegrast waren), fand er auf den Fernreisen neue Anregungen.
Wenn ich mir seinen Nachlass im Christian-Wagner-Archiv Warmbronn vor Augen führe, dann kann ich mir Christian Wagner nur schreibend an seinem kleinen brau-nen Tisch vorstellen, den er unter das Fenster geschoben hat, um länger natürliches Licht zu bekommen. Das Wort vom Sonntags- oder Winterdichter passt hier ganz und gar nicht. Diejenigen, die ihn als dichtenden Bauern sehen, werden seine Gedichte weiterhin kopfschüttelnd korrigieren wollen, wie dazumal Richard Weltrich, sein Biograph und Hermann Hesse, sein Förderer. Denjenigen, für die er ein ländlich lebender Dichter war, hat der Autodidakt innerhalb seines umfangreichen Oeuvres 50 bis 60 unvergängliche Gedichte hinterlassen. Elf davon hat Felix Muhle in Raum eins in einer Hörstation auf Band gesprochen.
Wie kommt es aber, dass sich das Märchen vom Bauerndichter, der sein kleines Heimatdorf nie verlassen habe, dem Anerkennung und Erfolg ein Leben lang weitgehend verwehrt worden seien, den man als Sonderling im Dorf belächelt habe und der erst spät (zu spät) Warmbronns Ehrenbürger wurde – wie kommt es, dass sich dieses Klischee bis heute hartnäckig hält? Christian Wagner hat selbst dazu beigetragen. Schon im Vorwort zu seinem Erstling „Märchenerzähler, Bramine und Seher“ nennt er sich einen „armen, ungelehrten Landmann“. Ein Stück weit stimmt das natürlich; andererseits ist das aber auch ein seit der Antike erprobtes Stilmittel der Rhetorik. Denn darauf gibt es als Antwort nur den Widerspruch: Nein Meister, Sie sind ein gottbegnadeter Dichter. Als „Meister“ wurde Christian Wagner von einigen seiner Jünger wirklich angeredet, und als Briefadresse liest man gelegentlich auch „An den gottbegnadeten Dichter“. Dass ein Genie im eigenen Land nicht verstanden werde, gehört ebenfalls in den Kanon dichterischer Selbstdarstellung. Man darf solche Aussagen nicht ernst nehmen.
Und damit ist das Thema Christian Wagner und Warmbronn aufgerufen. In der Aus-stellung steigen wir darauf nicht ausführlich ein; steuern aber behutsam gegen den Wind. Wenn der Dichter über die Warmbronner jammert, dann kehrt er den Bruddler heraus, und er wird seinen Mitbewohnern gegenüber ungerecht. In Warmbronn lebten um das Jahr 1900 vielleicht noch 200 Erwachsene. Zieht man die vier Gastwirte, einen Pfarrer und einen Lehrer ab, dann besteht der Rest aus Bauern. Man kann nicht erwarten, dass alle diese ein Faible für Literatur haben, und schon gar nicht eine Vorliebe für Gedichte.
Machen wir eine Gegenrechnung auf! Zu Wagners 70. Geburtstag wurde 1905 in Warmbronn ein rauschendes Fest gefeiert, unter Beteiligung der Einwohnerschaft und der örtlichen Vereine; alle Fenster waren mit Blumen geschmückt, die Gastwirte rieben sich die Hände, die Einheimischen fühlten sich ob der vielen auswärtigen Gä-ste geschmeichelt, und am Ortseingang, von Büsnau her gesehen, pflanzte man eine Christian-Wagner-Linde. In der Ausstellung zeigen wir exemplarisch die Einladung zu dieser „Christian-Wagner-Feier“ sowie Sigmund Lindenbergers Gedicht „Christian-Wagner-Linde in Warmbronn“. Es war bei weitem nicht die einzige und auch nicht die erste Huldigung für Christian Wagner. Missachtung sieht anders aus.
In Wahrheit ist es wiederum umgekehrt: Christian Wagner war zu seinen Lebzeiten weitaus bekannter als heute. Er wurde in elf Vereinen zum Ehrenmitglied ernannt, angefangen vom Bund für Vogelschutz, dem heutigen NABU, über die Marbacher Schillergesellschaft, den Justinus-Kerner-Verein bis zur Ortsgruppe Stuttgart des Deutschen Monistenbundes. Es war ein buntes Völkchen, das an Sonntagen zu ih-rem Guru nach Warmbronn pilgerte und dem Dichter keine Ruhe mehr ließ. Christian Wagner hat sie alle empfangen, Gedichte vordeklamiert, sich mit der Gruppe dem Fotographen gestellt und zum Dank ein Viertel Trollinger oder mehr im „Grünen Baum“ spendiert bekommen. Ob er dann am nächsten Morgen, wieder allein, sich den Vers aufsagte: „O wüsst ich doch, was mich nicht schlafen ließ! Ob ich betrunken kam vom Paradies?“, ist nicht überliefert. Ein Asket war er jedenfalls nicht. Wir haben für die Ausstellung auf dem Rednerpult in Raum drei eine Art Gästebuch rekonstruiert, überwiegend mit Fotos zumeist unbekannter Besuchsgruppen. Unsere Hoffnung geht dahin, dass der eine oder andere heutige Besucher die eine oder andere Person von damals wiedererkennt und uns das mitteilt.
Betreten wir den Raum drei, so erleben wir den zornigen Zeitgenossen Christian Wagner, der in Essays und Leserbriefen um seine Lebensmaxime, die „Schonung alles Lebendigen“, kämpft. „Jedes Wesen ist vor allem nur da, um sich seines Lebens zu freuen.“ Geleitet von diesem Ausspruch Wagners können Sie den Warm-bronner Dichter als Tier- und Naturschützer und als radikalen Pazifisten erleben. Christian Wagner hat sich mit dieser Einstellung nicht nur Freundschaft erworben. Wir dokumentieren seine Auseinandersetzung mit den Jagdpächtern, die Singvögel und Rehe aus purer Jagdlust „abknallen“ dürfen, während sein Schwiegersohn in den Tod getrieben wird, wenn er – um den Hunger in seiner Familie zu mildern – ein paar Hasen schießt. Wir dokumentieren den Fall Hugo Reinhard, des Zigeuners, der 1905 von einem Polizisten auf der Flucht erschossen wurde. Christian Wagner nennt das in einem Leserbrief „Mord“; die Zuschrift wurde wohl deshalb nicht veröffentlicht. In einer zweiten Hörstation können Sie einige dieser bemerkenswerten Stellungnahmen Wagners, wiederum von Felix Muhle gesprochen, auch akustisch verfolgen.
Auf die naheliegende Frage, warum Christian Wagner in seinem Todesjahr 1918 be-kannter war als einhundert Jahre später, möchte ich jetzt nicht eingehen. An seiner Dichtung und an seiner Lebenseinstellung liegt es jedenfalls nicht. Sie sind heutzuta-ge aktueller denn je. Wir haben in der Ausstellung konsequent auf Würdigungen von Nachlebenden verzichtet. Ein Dichter wird nicht dadurch bedeutend, dass sich namhafte Kollegen nach seinem Tod für ihn einsetzen. Christian Wagners Werk bedarf keiner Fürsprecher; es spricht für sich. Dazu muss es allerdings in guten Ausgaben öffentlich und leicht zugänglich sein.
Mein Schlusswort wird manche von Ihnen vielleicht überraschen. Trotz der politischen Aktualität, die Christian Wagners Lebensmaxime der „Schonung alles Lebendigen“ beanspruchen darf – sollten wir seine Selbsteinschätzung ernst nehmen:
Ich habe „jeder herzlosen Ichlehre“ den Krieg angesagt, schreibt er im Vorwort seiner Programmschrift „Neuer Glaube“. Deshalb hatten und haben es Ideologen jeglicher Couleur schwer, ihn zu vereinnahmen. Von schulterklopfenden Verehrern in den Himmel gehoben und von selbsternannten Literaturpäpsten zum Bauerndichter degradiert, hatte es Christian Wagner schwer, zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühlen seinen Weg zu gehen. Schon 1890 äußerte er seine „flehende Bitte“, der heutzutage nichts hinzuzufügen ist:
„Zerbröckle, wenn ich tot bin, selges Licht,
Zu Werktagsschlacken mir mein Wesen nicht!“
Möge die Ausstellung dazu beitragen, dass der Dichter und Mensch Christian Wag-ner für das 21. Jahrhundert als ein Sonntagskind wiederentdeckt wird, oder – um mit seinen eigenen Worten zu schließen – als „frisch und neugeboren“ an uns heran-treten kann.