Gedenkrede am 17. Februar 2018 – anlässlich des 100. Todestages Christian Wagners

Martin Trugenberger

Zwischen den Zeiten

Im Gedenken an Christian Friedrich Wagner, Dichter und Bauer, Naturphilosoph, „Märchenerzähler, Bramine und Seher“ halten wir inne und stehen zwischen den Zeiten. In unserem Blick auf den Menschen und sein Werk verbinden sich Vergangenheit, Gegenwart und erhoffte, erahnte Zukunft. Schauend und hörend betreten wir vertraute Wege. – Wege, die uns die Erinnerung führt, geleitet von Christian Wagners eigenen Worten; gestützt durch Bilder, die Momente festgehalten haben und Geschichte erzählen nun schon über ein Jahrhundert hinweg; und schließlich die kleinen und großen Geschichten, aufgezeichnet auf Papier, deren Nachhall uns aus der Vergangenheit immer noch erreichen.

Christian Wagners Worte selbst lassen eine Welt erstehen, die in seiner Heimat kaum mehr zu finden ist. Die Felder und Wiesen, ja selbst die umgebenden Wälder sind andere geworden. Und doch sind sie in ihrer mannigfaltigen Blüten- und Blätterpracht von einst in alles verdichtender Sprache bewahrt, mit der der Seher uns tiefer schauen lässt. Am Ende tut sich eine Wirklichkeit auf, eine Welt, die weiter reicht als Form und Farbe. Hinweise nur, die in Werden und Vergehen das Bleibende und Bestehende offenbaren und uns Raum und Zeit entheben. Wir selbst werden Resonanzkörper für Harmonien eines mannigfaltigen alles in Schwingung bringenden Lebensklanges. Hörend und sehend werden wir achtsam für den Pulsschlag des Lebens, schließlich in die Verantwortung genommen zu schonen und zu bewahren. Auf unserem Weg des Gedenkens nimmt uns Christian Wagner selbst mittels seiner Poesie an die Hand und schärft im Endlichen „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (frühe Bestimmung Fr. Schleiermachers von Religion).

Wir gehen Schritt um Schritt auf unserem Weg des Gedenkens und entdecken die Spuren eines Menschenlebens. Im Alltäglichen und Zufälligen, medienwirksam vom Fotografen in Pose gesetzt, allein oder im Kreis von Familie, Freunden und Bewunderern tritt uns der kleine hagere Mann mit seinem charakteristischen weißen Bart und Haarkranz aus dem Dunkel der Geschichte entgegen. Viel von diesem Menschenleben ist nachzulesen, viel davon ist dargestellt und erzählt worden und wird auch heute hier noch zu hören sein: Von seinen familiären Bindungen, dem Schweren und Gebrochenen in seinem Leben, von seinem Gebunden-, ja Gefesseltsein im bäuerlichen Dasein und von der Befreiung in seiner poetischen Existenz, auch von Unverständnis gegenüber seines Tun und Lassens wie von ehrender Anerkennung und Wertschätzung. Begonnen hat das Leben Christian Friedrich Wagners bekanntermaßen (5. August) 1835 hier in Warmbronn und hier starb er 82jährig. Eine außerordentliche Begabung zeichnete Christian Wagner aus. Sie ließ ihn tiefer blicken und höher steigen als manch anderen. Verwunderung und Bewunderung erregte die Bildung, ja Weisheit dieses Bauern. Eine Gnadengabe Gottes, aus der Quelle seiner Güte entspringend nannte es Missionar und Warmbronner Pfarrverweser Ikinger in seiner Grabrede, in der er auf die biblisch hebräische Poesie des 36. Psalms zurückgriff („HERR, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.“).

Dass die Last des Alters ihn mehr und mehr bedrückte, hat Christian Wagner selbst seit der Jahrhundertwende immer wieder zu Papier gebracht. Am Ende seines aktiven Lebens stand 1915 die Verleihung der Ehrenbürgerwürde seines Heimatortes anlässlich seines 80. Geburtstages. Gebrechlichkeit, nachlassende geistige und körperliche Kraft zeichneten die Monate bis zu seinem Tod, so hat es Pfarrer Ikinger in seinen Aufzeichnungen zur Beisetzung festgehalten.

Ernst Samuel Ikinger führt uns zusammen mit den Lebensbildern, Nachrufen und der Berichterstattung über die Beisetzungsfeier, welche die Tagespresse und Journale veröffentlichten, einen weiteren Schritt auf unserem Weg des Gedenkens.

Nachdem Christian Wagner am 15. Februar 1918 wohl gegen fünf Uhr morgens verstorben war, fand sich zwei Tage später, am württembergischen Landesbuß- und Bettag eine große Trauergemeinde zu seiner Beisetzung ein. Man erwies einem Dichterleben, das weit ins 19. Jahrhundert hinüberreichte, die letzte Ehre, nicht wissend – vielleicht ahnend, dass die sich bei der Trauerfeier widerspiegelnde gesellschaftliche Ordnung selbst bald zu Ende gehen würde. Noch immer forderte der von Christian Wagner so verachtete und verdammte Krieg tausende Opfer. Einen Monat später begann an der Westfront in völliger Verkennung der militärischen und politischen Gegebenheiten die Frühjahrsoffensive, an deren Ende militärischer Rückzug, Waffenstillstand und Abdankung der Monarchen stand.

Davor im Februar 1918 fand in Warmbronn vor dem Haus des Dichters eine überaus zahlreiche Trauergesellschaft zusammen. Gegen 13 Uhr begleitete der Trauerzug den reich mit Blumen und Kränzen bedeckten Sarg aus dem Ort hinaus zum Friedhof. Ein Schneetreiben hatte über das Trauerschwarz einen weißen Flor gelegt. Neben den Familienangehörigen und der Dorfgemeinschaft waren deren Schultheiß und die Gemeindekollegien vertreten. Daneben gaben der Warmbronner Kriegerverein, der Schwäbische Schillerverein, die Eltinger Waldechten sowie Vertreter der Stadt Stuttgart und ihres Touristenvereins „Naturfreunde“ sowie Freunde und Verehrerinnen und Verehrer des Dichters diesem das letzte Geleit und ehrten ihn durch Nachrufe. Der „Spielmann Gottes“ Christian Wagner, wie ihn das Neue Tagblatt in seinem Bericht nannte, fand seine letzte Ruhestätte in einem Grab rechts hinter dem einstigen Eingang zum Friedhof unter einer Tanne. Sechs Jahre später wurde der Gedenkstein mit dem Porträt Christian Wagners an dieser Stelle errichtet, wohin auch uns heute schließlich unser Weg des ehrenden Gedenkens zur Kranzniederlegung führen wird.

Christian Wagner selbst hatte sich einen anderen Ort der letzten Ruhe gewünscht – der Garten hinter seinem Haus sollte es sein („mein letzter Wille“ vom 5. Juli 1912):

„… Es sollte ein Ort sein, wo bei Schneefall in strengem Winter Vögel gefüttert werden.
Und hier in diesem Garten wünsche ich auch zu ruhen, denn:

Draußen im kleinen Gärtchen
Lasst still mich beerd’gen:
Da ist der Platz für meiner Lieder Schatz!
Da unter den grünen Bäumen
Will fort ich träumen!“